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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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weißer Spitze, das schmal an ihrem schlanken Leib herabfiel. Ihr Gesicht war blass und seltsam ausdruckslos. Selbst jetzt entdeckte Nico nur ein winziges Funkeln in den dunklen Augen der kühlen Schönheit. Keine Überraschung. Keine Furcht. Kein Wort.
    Die Sekunden zogen sich zäh dahin, während sich die beiden mit Blicken maßen, er stand noch auf der letzten Stufe, sie überragte ihn um einen halben Kopf. Irgendwann bemerkte Nico, dass er vergessen hatte zu atmen, und ließ die Luft lange durch die Nase ausströmen. Vorsichtig, als sei Manzinis Frau eine Schlafwandlerin, die nicht geweckt werden durfte, lief er um sie herum. Sein Ziel war das Arbeitszimmer des Gouverneurs. Die Lebensuhr.
    Langsam schritt er die Galerie entlang. Als er sich nach einigen Metern umdrehte, erschauerte er. Donna Genovefa stand nach 471
    wie vor am Treppenabsatz und schaute ihm nach. Er lief weiter.
    Ein heftiger Donner ließ ihn zusammenfahren. Der Panzer! Er muss explodiert sein. Ich habe Albino liegen lassen …!
    Zum Umkehren war es zu spät. Er hatte das Büro erreicht. Die Tür stand offen. Wenigstens entkam er nun endlich dem geheimnisvollen Blick der schweigsamen Frau.
    Nachdem er den tiefen Türsturz unterquert hatte, erlebte er die nächste Überraschung. Massimiliano Manzini wuselte durch den Raum. Es sah aus, als habe hier eine Razzia stattgefunden: umgestoßene Stühle, leer gefegte Regale, am Boden verstreute Gegenstände. Und auf dem Schreibtisch eine auf Hochglanz polierte Schatulle aus Ahorn. Nico spürte, wie sein Puls auf Touren kam.
    Manzini lief gerade vom Tresor zum Kamin und warf einen
    Stapel Dokumente ins prasselnde Feuer. Daher also der Qualm!
    Als er zum Stahlschrank zurückkehren wollte, bemerkte er den Beobachter bei der Tür und erstarrte. Drei, vier Herzschläge lang sahen die beiden Männer nur einander an. Dann stahl sich ein diabolisches Lächeln auf Manzinis Lippen.
    »Siehe da, des Uhrmachers Sohn!«
    Nico schritt langsam auf den Schreibtisch zu, immer darum bemüht, das Behältnis der Lebensuhr nicht anzustarren. »Wo ist Laura?«
    Ein fast lautloses Kichern. »Sie hat mich verlassen. Ist heute Nacht einfach fortgegangen.«
    »Wohin?«
    »Das weiß ich nicht. Und wenn, dann würde ich es dir nicht sagen, Walzenbändiger.«
    Obwohl dieses Geständnis Nico mehr als nur beunruhigte,
    blieb er äußerlich gefasst. »Sie sind wohl gerade dabei, Ihre Sün-denregister zu verbrennen? Lassen Sie ’s sein. Das Blut meines Vaters und anderer Unschuldiger klebt an Ihren Händen. Weder Wasser noch Feuer können Sie läutern, Don Massimiliano.«
    »Bist du etwa gekommen, um mir den Todesstoß zu verset-
    zen?«
    472
    Nico blieb stehen. Nur der Arbeitstisch trennte die beiden Feinde voneinander. »Ich hätte Sie in den Sümpfen töten können.
    Ein höherer Richter, als ich es bin, wird über Sie urteilen.«
    »Wenn ich hier fertig bin, wird es keine Beweise geben, auf die er sich stützen könnte.«
    »Sind Sie sicher?«
    Der mehrfache Mörder stieß ein heiseres Lachen aus. »Hat dir noch niemand gesagt, dass der große Massimiliano ein Illusionist ist? Ich habe die Faschisten verführt, die Nationalsozialisten, und ich werde auch die Alliierten von meiner Unschuld überzeugen.«
    Nicos zur Schau gestellte Gelassenheit geriet ins Wanken. Dieser Gauner wollte immer noch nicht aufgeben. Und wer konnte schon wissen, ob er nicht tatsächlich seinen Kopf ein weiteres Mal aus der Schlinge zu ziehen vermochte. Nico spürte, wie der schon besiegt geglaubte Rachedurst in ihm aufstieg. Das durfte er nicht zulassen. Dieser größenwahnsinnige Egomane musste endlich in seine Schranken verwiesen werden.
    »Vassene il tempo e l’uom non se n’avvede« , deklamierte der Sohn des Uhrmachers, als wäre er ein klassischer Bühnenschauspieler –
    Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht.
    Das letzte Wort des Dante-Zitats war noch nicht ganz ausgesprochen, als Manzini sich zu verwandeln begann. Sein eben noch unbekümmert lächelndes Gesicht erstarrte. Die lockere Körper-haltung wich einer augenscheinlichen Anspannung. »Was …?« Er glotzte Nico fassungslos an.
    »Mein Vater war nicht Ihr erstes Opfer«, erklärte dieser mit neu erwachendem Mut. »Acht Jahre vorher, am 10. Juni 1924, haben Sie Giacomo Matteotti ermordet, den Generalsekretär der Sozialistischen Partei.«
    Manzinis Gesicht wurde puterrot, und er schrie: »Das ist eine infame Lüge!«
    »Vassene il tempo e l’uom non se n’avvede« , wiederholte

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