Der Herr der Unruhe
geschwol-
lenen Leib und ihr tränenüberströmtes Gesicht sah, durchwogte ihn eine Welle der Enttäuschung. Es war nicht Laura, sondern eine Schwangere, die hier wohl für ihr ungeborenes Kind gebetet hatte. Entfernt kam sie ihm bekannt vor.
Im nächsten Moment hatte er sich wieder in der Gewalt. Die Frau brauchte Hilfe. Er beugte sich zu ihr hinab und bot ihr seine Hand als Stütze an. »Das Tor ist offen. Sie und Ihr Kind sind gerettet. Kommen Sie, Signora …«
»Casaldi«, sagte sie mit einem letzten Schluchzer.
Er glaubte sich verhört zu haben. »So wie unsere fleißigen Bäcker?«
»Nein, mit Orlando und Dante bin ich weder verwandt noch
verschwägert.« Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. Anstatt aufzustehen, fragte sie: »Sie haben mich für eine andere gehalten, nicht wahr?«
»Ja, ich hatte gehofft, Donna Laura zu finden.«
»Laura Manzini? Die ist nicht da.«
Die Bestimmtheit von Signora Casaldi ließ Nico aufhorchen.
»Haben Sie Donna Laura in den letzten vierundzwanzig Stunden gesehen?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Als heute Nacht das Unheil über die Stadt aufzog, sind wir von deutschen Soldaten in die Kirche getrieben worden. Im Aufblitzen einer Explosion habe ich in der Via del Limbo eine Gestalt gesehen. Ich bin mir sicher, dass es eine Frau war. Sie hatte ungefähr meine Figur – nur ohne das Kind im Bauch, versteht sich.«
»Ist es Laura Manzini gewesen?«, fragte Nico aufgeregt.
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Der Blitz, die bewaffne-469
ten Männer um uns herum, die Angst – ich war viel zu aufgeregt, um mir darüber Gedanken zu machen.«
Enttäuscht atmete Nico wieder aus. »Na ja, ich werde sie
schon finden.«
»Au!« Signora Casaldi hielt sich den Leib.
»Haben Sie Schmerzen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Junge tritt und schlägt mich, schon seit die Schießerei begonnen hat. Ihm scheint der Tag nicht besonders zu gefallen.«
»Woher wissen Sie, dass es ein Junge ist?«
»Haben Sie schon mal ein Mädchen erlebt, das so boxen
kann?«
»Vielleicht wird er ja ein großer Faustkämpfer.«
»O nein, bitte nicht! Mir wäre so jemand wie Sie lieber, Don Niklas, ein Uhrmacher. Meinetwegen auch ein Museumsdirektor, aber niemals ein Boxer.«
»Wir sollten jetzt hinausgehen, Signora Casaldi. Kommen Sie.
Ich helfe Ihnen.« Er stützte sie, während sie sich aufrichtete.
»Ich hätte doch mit den anderen in den Campana fliehen
sollen«, sagte sie, während beide dem Ausgang entgegenstrebten.
»Aber ich wollte nicht, dass mein Kind in einer Schachtel aus Sperrholz zur Welt kommt.«
»Das Lager im Pinienwald ist aber bestimmt sicherer als die Stadt.«
»Sie haben Recht, Don Niklas. Warum eigentlich nicht in den Wald? Ich glaube, ich werde den Jungen Silvano nennen.«
»Den ›Waldmann‹?«
»Das klingt friedlich, finden Sie nicht?«
Nico führte, sie die Freitreppe zur Via San Giovanni hinab. »Ja, Signora Casaldi. Tun Sie das. Frieden ist gut. Nichts brauchen wir dringender.«
Der Schornstein des Palazzo Manzini qualmte. Erst jetzt bemerkte Nico den Rauch. Kein Wunder bei dem dramatischen Geschehen vor der Kirche. Hinter ihm brannte immer noch der Panzer. Mit 470
verhaltenen Schritten näherte er sich dem Palast. Die Gasse davor war wie ausgestorben. Die Posten der Wehrmacht hatten sich vermutlich schon vor Stunden aus dem Staub gemacht. Das graue Gebäude kam Nico, trotz des eindeutigen Lebenszeichens aus dem Schlot, auf eine schwer fassbare Weise tot vor. Vielleicht waren längst alle Bewohner geflohen. Die Beobachtungen von Signora Casaldi legten diese Vermutung nahe. Doch bevor er sich in der Stadt auf die Suche nach Laura machte, musste er sich im Palazzo umsehen. Dafür gab es noch einen anderen Grund.
Der Hintereingang in der Via del Limbo war unverschlossen.
Vorsichtig drückte er die nur angelehnte Tür nach innen. Der Gang, der zur Küche und den anderen Wirtschaftsräumen führte, war leer. Leise betrat er den Palast.
Ungehindert erreichte er den Wandelgang, der den Lichthof umspannte. Auch hier herrschte Stille. Selbst die vereinzelten Maschinengewehrsalven aus der Ferne waren innerhalb der Mauern nur als gedämpftes Prasseln wahrzunehmen. Nacheinander kontrollierte er die Räume im Erdgeschoss. Keine Menschenseele.
Also doch ein totes Haus?
Er stieg die Treppe zum ersten Stock empor. Gerade als er nach links in die Galerie einbiegen wollte, trat ihm plötzlich Donna Genovefa entgegen. Sie trug ein langes Kleid aus gelblich
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