Der Herr der Unruhe
Kaltenreutter oder Hurz oder wer auch immer hatte dort mehrere Scharfschützen versteckt. Nico hatte lange regungslos am Wald-rand liegen müssen, bis sich die getarnten Soldaten durch winzige Bewegungen verraten hatten. In einem weiten Bogen hatte er Albino am Lenkrad aus der Gefahrenzone geführt. Als er die Stadt erreichte, war es stockdunkel.
Er versteckte das Motorrad bei Margerita Riccis Bäckerei, die immer noch arbeitete, weil die deutsche Kampfmoral von der regelmäßigen Versorgung mit frischem, möglichst dunklem Brot abhängig war. Hier arbeitete Orlando, ein Bruder von Dante Castaldi, der Nico seinerzeit von der Erschießung des armen Jungen mit den zwei Kneifzangen erzählt hatte. Der gesamte Castaldi-Clan gehörte zu den glühenden Bewunderern des Walzenbändigers. Teils über-, teils unterirdisch bahnte sich Nico seinen Weg zum Horchposten.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«
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Signora Tortora, deren Ohr am Radiolautsprecher klebte,
schreckte hoch. »Jungchen, du kannst doch eine schwerhörige Vettel nicht so erschrecken!«
»Kommt überhaupt noch etwas aus der Kiste raus? Ich bin
doch schon seit Stunden weg.«
»Und ob, mein Lieber. Scheinst deine Gabe in letzter Zeit gut gepflegt zu haben, Jungchen. Allerdings murmelt die Plaudertasche nur noch ganz leise. Mit meiner Vermutung habe ich übrigens richtig gelegen.«
»Wie meinst du das?«
»Die hecken irgendetwas gegen Manzini aus. Möglichweise
schon morgen früh.«
»Was hast du gehört?«
»Du weißt ja, die Mitteilungen sind alle verschlüsselt. Aber irgend so ein Obermacker ist in die Funkbude geschneit, hat dem Mann am Mikrofon einen Zettel in die Hand gedrückt und sagte:
›Hau raus det Zeuch. Morjen früh heizen wa dem Juvanör ein, und danach jib’s ’n Viehtrieb erster Klasse.‹«
»O nein! Selbst wenn dieses ›Einheizen‹ nicht wortwörtlich gemeint ist …« Sein Hals schnürte ihm die Worte ab.
»Werden sie Don Massimiliano und seine Sippe deportieren«, deutete die Tortora den letzten Teil des abgehörten Gesprächs.
»Ich muss sofort in den Palazzo.«
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, bremste ihn die
Tortora. »Die Geheimtür ist zu, und anders kannst du nicht ungesehen in den Palast marschieren, um dein Mädchen herauszuholen. Wenn du dich unbedingt umbringen willst, dann sollte das deine Ultima Ratio sein, nicht die erste Wahl.«
Immer wieder überraschte die äußerlich so liederliche
Witwe Nico mit dem Aufblitzen ihrer Bildung. »Sie schlagen mir vor, noch ein wenig ›den Äther abzugrasen‹ um möglicherweise einen besseren Weg zu finden, ehe ich mich ins Unglück stürze?«
»Sag ich doch.«
Nico seufzte. »Also gut. Ich habe in der letzten Nacht kein 458
Auge zugetan und fühle mich wie gerädert. Wenn ich das Radio noch einmal aufmuntere, könnten Sie dann …?«
»Selbstredend, Jungchen. Hau dich nur aufs Ohr. Ich mach
dich wach, wenn’s was Neues gibt.«
»Mehr als vier Stunden Schlaf brauche ich nicht.«
Die Tortora trug eine Herrenarmbanduhr. Diese befragte sie und erwiderte: »Um zwei Uhr morgens wecke ich dich.«
Nachdem Nico dem Rundfunkempfänger gut zugeredet hatte,
rollte er sich mit einer im Nachbarzimmer gefundenen Decke auf den Bodendielen zusammen. Wenige Sekunden später war er ein-geschlafen.
Die Schützen legten an. Der Feldwebel gab den Feuerbefehl. Das Krachen aus zwei Dutzend Gewehrläufen hallte wie ein einziger Schuss. Laura riss Augen und Mund auf. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Verwunderung, als sie sich zu Nico umdrehte und, von sämtlichen Kugeln ins Herz getroffen, zusammen-sank …
»Verdammt, Jungchen! Bist du tot, oder willst du nicht aufwa-chen?«
Nico schüttelte den Kopf wie ein Hund, der sich das Was-
ser aus dem Fell schleuderte. Blinzelnd öffnete er die Augen.
»Was?«
»Hast du das eben gehört?«
Die schreckliche Szene mit dem Erschießungskommando stieg wieder hoch. War es etwa doch kein Albtraum gewesen? »Wie spät ist es?«
»Viertel vor zwei.«
Nico holte Luft, um etwas zu erwidern, als plötzlich auch er es vernahm.
Ein fernes Donnergrollen trieb über die Stadt hinweg.
»Sie kommen!«, hauchte er und war im Nu auf den Beinen.
»Es könnten aber auch die üblichen Bombardements in den
Castelli sein«, gab Signora Tortora zu bedenken. Ihr war anzusehen, dass sie nicht wirklich daran glaubte.
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Er schüttelte abermals den Kopf. »Nein. Es klingt … irgendwie anders. Ich spüre es mehr, als ich es hören kann. Es sind
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