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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Nico, und diesmal legte er besondere Betonung auf die Mitte des Zitats.
    »Ich muss zugeben, es hat lange gedauert, bis mir der verborgene 473
    Sinn von Dantes Worten aufgegangen ist. Eines Morgens, als ich aus einem fiebrigen Traum erwachte, fragte ich mich, warum der Mensch das Hingehen der Zeit nicht gewahrt. Aber dann fiel mir ein, dass Sie einen Chauffeur haben, der Uberto Dell’Uomo heißt – dasselbe Wort, sieht man von der kleinen grammatika-lischen Verformung ab. Als Sie das Zitat aus Dantes Purgatorio in der Uhr meines Vater gesehen haben, ist es Ihnen schlagartig bewusst geworden: Uberto ist dieser Mensch, der nicht beachtet, dass die Zeit vergeht, weil er nicht vergessen kann, was er gesehen hat und was sein Gewissen belastet: den Mord an Giacomo Matteotti.«
    Schweißtropfen standen auf Manzinis Stirn. Sein Kopf zitterte hin und her. »Hirngespinste! Das alles ist deiner Phantasie entsprungen. Kein Richter würde dir diese Geschichte glauben.«
    »Auch nicht, wenn der Ermittler die Verbindungen zu ›Purgatorio‹ entdeckt, dem Geheimkommando, das Sie im Auftrag von Benito Mussolini befehligt haben? Uberto Dell’Uomo gehörte dieser verdeckt arbeitenden Einheit nicht nur an, er war so etwas wie Ihr Adjutant, Don Massimiliano. Kurz vor dem Mord an Matteotti hatte er den sozialistischen Oppositionsführer zusammengeschla-gen und landete dafür im Gefängnis. Das ist aktenkundig. Ebenso die Tatsache, dass er von Ihnen zweimal herausgeboxt wurde: nach dem K. o. des Abgeordneten und wenig später noch einmal, als Uberto aus begreiflichen Gründen als Hauptverdächtiger in dem Mordfall festgenommen worden war. Er hat einmal zu mir gesagt: ›Der Podestà und ich sind durch eine unsichtbare Kette verbunden.‹ Ich hielt das damals für so eine Art Treuebekenntnis, aber dann wurde mir klar, dass Ihr Adjutant Sie angekettet hat.
    Ich vermute, er bewahrt an einem sicheren Ort seine Zeugenaussage auf, für den Fall, dass ihm ein Unglück widerfährt. Hat aus diesem Grund der ungeschickteste Mensch im Umgang mit Technik, der mir je über den Weg gelaufen ist, bei Ihnen den Posten als Chauffeur bekommen?«
    Nicos Hand schnappte vor und griff nach der Ahornkiste. Er spürte das Gewicht der großkalibrigen Uhr. Damit hatte er alles, 474
    was er brauchte. Uberto würde sein Schweigen brechen, wenn er Manzini nicht länger zu fürchten brauchte. Im Nachhinein war Nico das klar geworden, nachdem er sich ihr Gespräch in der Trattoria hatte durch den Kopf gehen lassen.
    Einmal mehr unterschätzte Nico die Tücke seines Gegners.
    Mit überraschender Schnelligkeit schoss auch Manzinis Hand nach vorn und packte ihn am Unterarm. Ein ungleiches Ringen begann.
    Der schwergewichtige Hausherr zog seinen schmächtigen,
    sich heftig wehrenden Besucher mit Leichtigkeit über den Tisch.
    Nico hörte Gegenstände zu Boden fallen, die seine zappelnden Beine heruntergefegt hatten, aber er ignorierte den schmerzhaften Zangengriff und klammerte sich weiter an die Schatulle. »Geben Sie mir die Uhr!«, presste er hervor.
    Manzini grunzte. »Damit du sie zerstören kannst und den
    Fluch deines Vaters über mich bringst?«
    »Sie ist mein Erbe und gehört mir. Mehr will ich …« Das Letzte Wort wurde Nico regelrecht in den Hals zurückgestampft, als ihn Manzinis Faust im Gesicht traf. Sein Arm wurde von der Wucht des Schlages aus dem menschlichen Schraubstock gerissen. Nico schlug hart auf dem Boden auf. Da entglitt die Kassette seinem Griff. Reflexhaft blickte er ihr nach. Sie war aufgesprungen. Die Uhr lag jenseits der Teppichkante mit offenem Deckel auf den Steinfliesen. Ein Schatten trat in seinen Gesichtskreis, er wandte sich sofort wieder dem Gegner zu und erschrak.
    Manzinis fleischige Rechte umklammerte einen Brieföffner.
    Sein Gesicht war zornrot, die Augen blutunterlaufen. Mit schriller Stimme schrie er: »Du hättest sie fast zerstört!«
    Und dann stieß er zu.
    Nico hatte gerade noch genügend Geistesgegenwart, um sich zur Seite zu rollen, aber er spürte einen stechenden Schmerz am Oberarm. Schon die nächste Attacke konnte sein Herz treffen.
    Verzweifelt versuchte er dem Wahnsinnigen, der ihm brüllend nachsetzte, zu entkommen. Auf allen vieren krabbelte er davon.
    Aber Manzini war wendiger, als man es seinen Körpermassen 475
    zutraute. Er packte Nico am Fußgelenk und riss ihn erbarmungslos zurück. Die fleischige Faust mit dem spitzen Stilett hob sich abermals. Nico zappelte und zerrte, er teilte mit dem freien Fuß

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