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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Fuß zur Seite zu nehmen. Bis er wohl den goldenen Deckel unter seiner Schuhsohle hervorblitzen sah.
    »Der Fluch des Uhrmachers!« Seine Stimme glich einem asthmatischen Keuchen.
    Nico erinnerte sich an die letzten Worte seines Vaters, und unbewusst sprach er sie aus: »Dein Leben soll wie die Unruh der Uhr sein, die du gestohlen hast: unstet, zerbrechlich und wenn sie einst stehen bleibt, sollst auch du sterben.«
    Das massige Haupt des Mörders wandte sich dem Herrn der
    Unruhe zu. Der blanke Schrecken spiegelte sich auf Manzinis schweißnassem Gesicht. Sein Mundwinkel zuckte. Er schüttelte den Kopf, erst langsam, dann schneller, bis daraus ein irres Zittern wurde.
    »Nein!«, keuchte er. »Du kannst mich nicht verfluchen. Die Uhr hat keine Macht über mich. Sie …« Manzinis Stimme ging in einem gurgelnden Laut unter. Er fasste sich an die linke Brust.
    Seine Hand verkrampfte sich zu einer zitternden Kralle. Er begann erneut zu wanken, bekam plötzlich Übergewicht, kippte nach hinten und schlug der Länge nach auf dem Steinboden auf.

    Nico hatte später nie sagen können, wie lange er dagestanden und Manzinis Gesicht angestarrt hatte. Es war eine Momentaufnahme des Schreckens, eingefrorenes Grauen. Die Augen weit aufgeris-478
    sen, lag der einst mächtigste Mann von Nettunia im Blut seines geborstenen Schädels. Reglos. Tot.
    Unvermittelt vernahm Nico ein leises Stöhnen. Sein Kopf fuhr herum. Uberto bewegte sich.
    Schnell lief er zu dem Mann, ohne den er wohl nicht mehr
    leben würde, kniete sich zu ihm nieder und nahm seine Pranke.
    »Uberto, du lebst!«
    »Das sieht nur so aus«, keuchte der Chauffeur. Aus seinem Mundwinkel sickerte Blut. »Du …«
    »Sag jetzt nichts! Schone deine Kräfte. Die Amerikaner haben bestimmt Sanitäter mitgebracht. Ich werde Hilfe holen.« Nico wollte schon aufstehen, aber Uberto ließ seine Hand nicht los.
    »Nein, Niklas. Oder Nico. Es … Die Zeit reicht nicht mehr.«
    »Was redest du da …!«
    »Lass mich ausreden. Meine Lunge ist verletzt. Ich kenne
    mich in solchen Dingen aus. Bevor ich sterbe, musst du etwas wissen.«
    »Wenn du die Sache mit dem ›Purgatorio‹-Kommando meinst,
    die kenne ich schon. Du warst daran beteiligt, hast Manzini beim Mord an Matteotti assistiert …«
    »Nein, als wir ihn entführten, habe ich nur den Wagen …«
    Uberto verschluckte sich am eigenen Blut, hustete rote Blasen, die über seinem Gesicht zerplatzten und es mit Sprenkeln übersä-
    ten. Endlich fand er zur Sprache zurück. »Mussolinis Befehl war widersprüchlich. Ich dachte, wir … sollten den Generalsekretär nur einschüchtern, aber dann … brachte Don Massimiliano ihn kaltblütig um.«
    »So ähnlich habe ich mir das schon gedacht. Und jetzt schweig, damit du nicht deinen letzten Atem vergeudest.«
    »Es ist … zu spät«, beharrte Uberto. Seine Stimme wurde
    immer schwächer. »Eins musst du … musst du noch wissen.
    Ich habe alles aufgeschrieben und bei … einem Freund meiner Familie hinterlegt, der Notar ist. Ich bin in Sonnino geboren …
    Du weißt schon, das Sonnino hier in Latium. Geh … zu … Dottore …«
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    Uberto hörte einfach auf zu sprechen. Der Mund war noch
    geöffnet, aber seine Augen gebrochen.
    Nicos Kopf sank herab. Als wäre ein Damm geborsten, strömte die ganze Anspannung aus ihm heraus. Sein Körper erbebte unter dem Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung. Tränen rannen ihm über die Wangen. Er hatte den tumben Menschen, der noch im Tod seine Hand festhielt, nie als einen Freund angesehen. Uberto besaß eine zwielichtige Vergangenheit und manchmal ein aufbrausendes Wesen. Aber meistens war er wie ein zahmer Bär gewesen, der mit seiner Kraft und Ungeschicklichkeit anderen ein Schmunzeln entlockte. Er hatte seine Verfehlungen wohl bereut und jahrzehntelang an einem schlechten Gewissen gelitten.
    Vielleicht war er im tiefsten Inneren einfach nur ein schwacher Mensch gewesen, der einmal gestrauchelt war und keine Hand gefunden hatte, die ihm wieder auf die Beine half.
    Müde richtete sich Nico endlich auf. Er lief zu der Ahorn-schatulle, die von Manzini unbedacht zur Seite gekickt worden war. Nachdem er sie aufgehoben hatte, bückte er sich nach den Überresten der goldenen Uhr und stutzte. Auf dem Zifferblatt war nur noch ein einziger Zeiger zu sehen. Der Anblick ließ Nico er-schauern, beschwor er doch Verfluchungen aus seinem Gedächtnis herauf, die ihm damals nur wie das wirre Gestammel eines Sterbenden erschienen waren. Jetzt hatten sich die

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