Der Herr der Unruhe
nur ein anderes Gesicht des Faschismus und vielleicht ein noch viel schlimmeres.«
»Darüber zu streiten ist müßig, Nico. Du warst jedenfalls zu lange weg, um dich mit den Gegebenheiten hier auszukennen.
Deshalb brauchst du auch meine Hilfe, wenn du eine Vendetta gegen Manzini planst.«
»Sehe ich aus wie ein Sizilianer?«
Bruno verlor allmählich die Geduld. »Hör endlich auf, mir etwas vorzumachen. Auge um Auge, Zahn um Zahn – steht das nicht in der Thora, eurer heiligen Schriftrolle? Die Blutrache war im Volk Israel ein göttliches Gebot. Du kannst nicht anders.«
»Woher willst du wissen, was in mir vorgeht, Bruno?«, fragte Nico müde.
Sein Freund klopfte ihm auf die Schulter und lächelte. »Ich habe dich schon immer durchschaut. Wir waren schließlich einmal wie Pech und Schwefel. Und wir werden es wieder sein.«
»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Mein Aufenthalt hier wird nicht länger dauern als nötig. A propos, was ist übrigens aus dem Haus meiner Familie geworden?«
»Manzini hat es sich unter den Nagel gerissen.«
»Was?«
Bruno nickte. »Weil niemand da war, der Anspruch darauf
erhob, ist es an die Stadt gefallen. Der Vorsteher soll’s für eine Hand voll Lire gekauft haben. Das Merkwürdigste daran ist, dass es seit dem Mord an deinem Vater unbewohnt geblieben ist. Türen 68
und Fenster sind verrammelt, als wollte Don Massimiliano darin etwas einschließen, das nie wieder das Tageslicht sehen darf.«
»Seine Blutschuld.«
»Möglicherweise. Du bist der rechtmäßige Erbe des Hauses, Nico. Zeig’s dem Halunken und dem ganzen korrupten Apparat.
Hol dir zurück, was dir gehört.«
»Wozu? Ich glaube nicht, dass ich dieses Haus je wieder betreten kann, ohne danach wochenlang Albträume zu haben. Davon abgesehen: Darf ich dir einen Rat geben, Bruno?«
»Nur zu.«
»An deiner Stelle würde ich nicht jedermann meine regime-
feindliche Gesinnung auf die Nase binden.«
»Aber du bist nicht jedermann. Wir beide sind erwachsen geworden und mögen uns für andere verändert haben, aber als ich dich vorhin im Gespräch mit dem Chauffeur entdeckt habe, ist in meinem Kopf eine Leuchtrakete hochgegangen. Mir war, wie gesagt, sofort klar, wer da in seine alte Heimatstadt zurückkehrte.
Und mir wurde auch sehr schnell bewusst, weshalb du nach Nettuno gekommen bist. Jemand mit deinen Absichten wird nicht zur Polizei laufen.«
»Und wenn ich ein Spitzel der OVRA bin?«
»Dass ich nicht lache! Du und die Geheimpolizei zur Abwehr des Antifaschismus, das wäre ungefähr dasselbe wie ein katholischer Priester bei den Kommunisten.«
»Ich finde es trotzdem etwas unvorsichtig, einen Reisenden von der Straße aufzulesen und mit nach Hause zu schleppen.«
Nico ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, das Brunos ganze Habe barg. »Schon irgendwie komisch. In meiner Erinnerung warst du bis eben noch der freche Rotzlümmel, der sich kaum eine Zuckerstange leisten konnte, und mit einem Mal bist du neunzehn und stolzer Besitzer einer eigenen Wohnung.«
»Es ist nicht viel mehr als ein Loch über der Stadtmauer. Aber wenigstens geht das Fenster nach Westen raus. Für ein Zimmer mit Meerblick blechen andere horrende Preise.«
»Nichts auf der Welt ist umsonst. Wie kannst du das hier be-69
zahlen? Ich dachte früher immer, du würdest eines Tages in die Fußstapfen deines Vaters treten.«
»Und ein hungernder Maler werden? Nein danke.«
»Andrea Sacchi war ein gefeierter Künstler.«
»Ja, vor beinahe dreihundert Jahren. Ohne Baron Camossis
Großzügigkeit hätte mein Vater die Familie nie durchgebracht.
Auch auf die Gefahr, mich zu wiederholen, Nico: Die Zeiten haben sich geändert. Ich kann der Vorstellung nichts abgewinnen, eimerweise Farbe in faschistische Monumentalgemälde zu kippen.«
»Und womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?«
»Ich fahre reiche Besucher in der Gegend herum.«
»Du bist ein Fremdenführer ?«
»Aus deinem Mund klingt das wie ein anderes Wort für Zu-
hälter. Papà hat mir viel über die schönen Künste beigebracht.
Das kommt mir bei meiner Arbeit sehr zugute. Ich führe eine Menge reiche – nicht selten auch einflussreiche – Leute durch die Gegend. Da fällt einiges ab, und ich muss nicht mal in der Partei sein.«
»Du brauchst nicht ständig zu betonen, wie wenig du von den Faschisten hältst.«
»Als wenn das bei dir anders wäre!«
»Na, was denkst denn du? Schon vergessen, dass ich am 23.
März 1919 geboren wurde, dem Sonntag, an dem
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