Der Herr der Unruhe
ihre Schulter hinweg ans gegenüberliegende Ende der Galerie. Dort stand unter einem Türsturz, so wie bis eben er, Uberto Dell’Uomo. Er regte sich nicht, glich fast einer Wachsfigur. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Seit wann, fragte sich Nico, lauerte der Chauffeur schon dort? Hatte er ihn etwa die ganze Zeit über beobachtet? Welche Schlüsse mochte er daraus ziehen? Und was würde er jetzt tun?
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Wien, 1934 – 1938
ie Zufluchtsstätte war ihm zum Gefängnis geworden. Nico
Dhätte der Porzellangasse lieber heute als morgen Lebewohl gesagt, aber er konnte, nein, er durfte nicht. Lea brauchte ihn.
Ihr Verdacht war schnell zur Gewissheit geworden: »Das
Auge« Martha Hrdlicka hatte den sozialdemokratischen Uhr-
macher bei der Polizei angeschwärzt. Nachdem die mürrische Witwe ihre Nachbarin schutzlos wähnte, überschüttete sie diese mit ihrem Geifer. Möglicherweise hoffte sie auf diese Weise, »das Judenpack« aus dem Haus zu graulen, aber zwischen dem Auge und Lea stand Nico.
Wohl eine Stunde lang hatte er mit ihr geweint. Er fühlte sich schuldig. Schon beim Mord an seinem Vater war er untätig geblieben, und nun sein neuerliches Versagen. Er hätte wenigstens irgendetwas unternehmen müssen; stattdessen hatte er sich in die Werkstatt verkrochen, bis es zu spät war, bis sie Meister Johan unter seinen Augen verschleppt hatten. Am diesem Morgen des 16. Februar 1934 schwor sich Nico, nie wieder einen Menschen seinem Zaudern oder gar der eigenen Feigheit zu opfern.
Endlich erhoben sich die beiden vom Dielenboden auf dem
Flur. Der Verstand gewann das Regiment über die Gefühle zurück.
Was konnte man tun, um Johans Schicksal zu ergründen? Nico suchte zusammen mit Lea das nächstgelegene Polizeirevier auf.
Dort wollte man nichts von einer Razzia in der Porzellangasse wissen. Unschlüssig kehrten die zwei nach Hause zurück. Lea war am Boden zerstört.
Die Ungewissheit zog sich qualvoll hin. Noch im Laufe des 180
Tages wurde bekannt, dass von der Bundesregierung die Annul-lierung aller sozialdemokratischen Mandate verfügt worden war.
Darüber hinaus sollten sämtliche Vermögenswerte der Sozialdemokratischen Partei und ihrer Organisationen beschlagnahmt werden. Dollfuß nutzte den Volksaufstand für einen Rundum-schlag. Aber wo war Johan?
Die zwei sprachen beim Bundesheer vor. Auch dort gab man
sich zunächst bedeckt. Zur gleichen Zeit machte die Nachricht von eintausendfünfhundert bis zweitausend Toten unter den Aufständischen die Runde. Neun Schutzbündler seien standrechtlich erschossen worden. Nur die neun?, fragten sich die Zurückge-bliebenen bange. Lea hungerte, und sie schlief kaum noch. Ihr Unterbewusstsein schien ihr einzuflüstern, dass sie ihren Mann durch Entsagung zurückgewinnen könne.
Erst fünf Tage nach Johans Verhaftung – das unselige Standrecht wurde an diesem Mittwoch endlich wieder aufgehoben – erhielt sie den amtlichen Bescheid. Johan und sein Vetter Moritz waren gemeinsam mit zahlreichen weiteren politischen Häftlingen in einem der neu geschaffenen Anhaltelager interniert worden.
Bei Lea und Nico mischte sich Erleichterung mit Sorge. Johan war nicht mehr der Jüngste. Konnte er die körperlichen und nerv-lichen Strapazen einer solchen Haft durchstehen? Unermüdlich unterstützte Nico seine Ersatzmutter beim Abfassen von Einga-ben, beim Schreiben von Bittbriefen, Einholen von ärztlichen Attesten und beim Aufsuchen alter Kunden, die auch im neuen Österreich über mancherlei Einfluss verfügten. Im Sommer 1934
zeichnete sich endlich eine Lösung ab.
Ein Mitarbeiter aus dem Büro von Richard Schmitz, dem
neuen Bundeskommissär für Wien, besaß eine Offiziersta-
schenuhr, die buchstäblich abgesoffen war. Ihr Wert sei für ihn unschätzbar, jammerte der verzweifelte Beamte, sie habe schon gegen Napoleon gekämpft. Aber letzten Sonntag sei sie ihm bei einem bis dahin vergnüglichen Aufenthalt im Prater in eine Maß Bier gefallen. Die Unruh des mehr als einhundertfünfzig Jahre alten Erbstücks lag im Delirium.
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Nico stellte Heilung in Aussicht und brachte wie beiläufig das traurige Schicksal seines Meisters zur Sprache – die Kunst des Aushorchens wohlgesinnter Kunden hatte ihm Johan beigebracht Herr Mezei sei unschuldig interniert worden, klagte Nico; außer der Lektüre der Arbeiter-Zeitung und der Teilnahme am jährlichen Maimarsch habe er sich nichts zuschulden kommen lassen.
Wenige Tage später flatterte ein amtliches Schreiben ins
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