Der Herr der Unruhe
ein weiteres Mal interniert zu werden?
Voller Misstrauen überflog Nico den Inhalt eines Artikels mit dem Titel »Zur nationalen Frage in Österreich«. Darin beschwor ein gewisser Alfred Klahr anhand historischer Beispiele die kul-turelle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs von Deutschland. Dem jungen Leser stellte sich die Frage, ob Schlag-186
bäume oder Grenzzäune für das Glück der Menschen wirklich entscheidend waren. Trotzdem dräute ihm, dass die vor allem von nationalsozialistischer Seite zunehmend penetranter vorge-tragenen Forderungen nach einer Vereinigung Deutschlands mit Österreich mehr als politisches Wunschdenken sein könnten.
Derlei Bestrebungen beunruhigten bei weitem nicht nur Nico.
In der Synagoge hörte man allerlei Schauergeschichten über die rücksichtslose Behandlung von Juden im Deutschen Reich. Am Horizont zogen dunkle Wolken auf.
Schon wenig später, am 12. Februar 1938, musste sich
Schuschnigg auf den Obersalzberg zum deutschen Führer und Reichskanzler zitieren lassen. Im verschneiten Berchtesgaden setzte Hitler dem österreichischen Bundeskanzler die Pistole auf die Brust. Schuschnigg sollte Österreichs Wirtschafts-, Militärund Außenpolitik der deutschen anpassen und den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister ernennen. Um einen Einmarsch deutscher Truppen in seinem Land zu verhindern, gab Schuschnigg zähneknirschend nach.
Es war nicht schwer zu erraten, worauf das Ultimatum Hitlers abzielte, denn schon im Deutschen Reich hatte die nationalsozialistische Führung ihre Macht durch die Gleichschaltung der Länder manifestiert. In diesen Tagen im Frühjahr ’38 machte Meister Johan zum ersten Mal eine Äußerung, die Nico sofort mit Begeisterung aufgriff.
»Aus Wien fortgehen? Wir könnten doch gemeinsam zu Onkel
Davide nach Rom ziehen.«
Johans Finger spielten mit einem Pendel, das zu einer lahmenden Wanduhr gehörte. Die beiden führten in der Werkstatt ein, wie sich der Meister ausgedrückt hatte, »Gespräch unter Männern«. Er begegnete unverwandt Nicos flammendem Blick. »Du brauchst gar nicht so zu gucken. Ich habe gesagt, wenn Hitler den
›Anschluss‹ durchsetzt, dann überlege ich mir, ob wir nach Italien umziehen. Noch ist nicht aller Tage Abend. Schuschnigg hat für den 13. März eine Volksabstimmung für ›ein freies, deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Öster-187
reich‹ angekündigt. Ist dir aufgefallen, dass er das Lieblingswort von Doktor Dollfuß weggelassen hat?«
»Du meinst ›autoritär‹?«
Der Meister lächelte grimmig. »Unser strenger Herr Bundeskanzler soll sogar eine Abordnung von Sozialdemokraten zu sich geladen haben, obwohl wir doch als illegal abgestempelt worden sind. Vielleicht bringt die Bedrohung durch Hitler eine Koalition aller politischen Kräfte im Land hervor.«
»Politik!«, schnaubte Nico. »Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Warum lassen sie uns nicht einfach in Frieden leben?«
»Weil jeder Friede seinen Preis hat, mein Junge.«
Man sagt den Österreichern nach, sie seien mehr als andere Völker dem Tod verhaftet. Nicht wenige Große dieser Nation machten ihrem Leben selbst ein Ende. Allzu viele Kleine folgten nur wenige Tage nach dem Gespräch der beiden Uhrmacher dieser Tradition.
Den Anlass für die Selbstmordwelle gab eine Entwicklung,
die Johans Hoffnung wie eine Seifenblase zerplatzen ließ. Noch ehe der Monat zu Ende ging, verabschiedete sich Doktor Kurt Schuschnigg am 11. März in einer Rundfunkansprache von seinen Landsleuten mit den Worten: »Gott schütze Österreich!« Hitler und Göring hatten zuvor seinen Rücktritt sowie die Einsetzung von Seyß-Inquart als Bundeskanzler gefordert. Am Tag nach der Erfüllung ihres Begehrens überschritten Truppen der Deutschen Wehrmacht gegen fünf Uhr dreißig die österreichische Grenze.
Bereits in der Nacht wurden die Bewohner der Porzellangasse 30 von einem beunruhigenden Lärm geweckt. Nico hörte das Ge-räusch von berstendem Glas. Wenige Sekunden später hatten sich er, Lea und Johan am offenen Fenster im Wohnzimmer versam-melt. Auf der Straße skandierte ein Männerchor ein unharmoni-sches »Juda verrecke!«.
»Es beginnt schneller, als ich gedacht habe«, knirschte Johan.
Lea ballte die Fäuste vor dem Mund. »Sie haben Herschels
Schaufenster zerschlagen. Jetzt werden sie sich unseren Laden 188
vornehmen.« Tatsächlich rückte die Meute von der koscheren Metzgerei Herschel
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