Der Herr der Unruhe
Haus, dessen schönster Satz lautete: »Vorbehaltlich der abschließenden Prüfung wird dem Antrag auf vorzeitige Haftentlassung des oben Bezeichneten stattgegeben.«
Am Freitag, dem 27. Juli 1934, sollte Johan wieder zu Hause sein. Aber es kam anders. Zwei Tage vor seiner Freilassung ver-suchten Nationalsozialisten die Regierung Dollfuß zu stürzen. Bei dem Putschversuch töteten sie den Bundeskanzler.
Die Denunziantin vom Hochparterre jaulte im Hausflur vor
Empörung und machte pauschal alle »Juden, Bolschewiken und das übrige rote Gesocks« verantwortlich. So mussten wohl auch einige andere gedacht haben, denn »die Prüfung auf vorzeitige Haftentlassung von Herrn Johan Mezei wurde abschlägig beschieden«. Lea drohte daran zu zerbrechen.
Mit viel Liebe richtete Nico sie wieder auf. Gemeinsam kämpften sie weiter um Johans Freilassung. Mit der Ermordung des Bundeskanzlers endete nicht dessen Vision von einem »sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage und mit starker autoritärer Führung«. Was Dollfuß am 11. September 1933 auf einem Trabrennplatz ausgerufen hatte, schrieb sich kaum ein Jahr später sein Amtsnachfolger auf die Fahne. Der neue Regierungschef hieß Kurt Schuschnigg, und er pflegte mit Hingabe das Andenken an den alten.
Im Zuge dieser Erhaltungsmaßnahmen musste die Freilassung der in den Anhaltelagern Inhaftierten zunächst hinter wichtige-ren Entscheidungen zurücktreten. Schon im Monat nach dem
gescheiterten Putsch wurde ein Erlass verabschiedet, demzufolge in allen Orten Österreichs ein Platz oder eine Straße nach Doktor Dollfuß benannt zu werden habe. Während die Zahl der arbeitslo-182
sen Metaller auf fünfzig Prozent kletterte, sorgte sich der Wiener Behördenapparat um die Reduzierung eines vorgeblich größeren Übels. Die Sozialisten hatten in der ganzen Stadt Hauswände mit ihrem Symbol, den drei nach oben weisenden Pfeilen, verunziert.
Man versäumte keine Anstrengung, um sich des Makels zu entledigen. Sogar einige Sozialdemokraten beteiligten sich – unter polizeilicher Aufsicht – an der Reinigungsaktion.
Der Wille zur Veränderung war unverkennbar, und er wurde
zu einer Welle der Tatkraft. Von dieser getragen, schwappte die Bundesregierung ins neue Jahr. Am 26. Januar 1935 trat das Kabi-nett vollzählig an, um eine neue Tradition aus der Taufe zu heben: den Wiener Opernball.
Nicos Begeisterung für das muntere Treiben der Mächtigen
hielt sich in Grenzen. In seinem Kopf führte er ein Konto, das im Haben vornehmlich Blendwerk und brutale Maßnahmen zum
Zwecke des Machterhalts auswies, im Soll dagegen die unerfüllten Forderungen nach Freiheit, Frieden und Sicherheit für Menschen wie die Mezeis. Obwohl er ihnen sein zweites Leben und so etwas wie ein neues Zuhause verdankte, hatte er sie enttäuscht. Ihm war nie ein Vorwurf zu Ohren gekommen, aber Nico fühlte sich trotzdem schuldig.
Die Ausbildung konnte er sowieso nicht mehr fortführen,
also konzentrierte er sich ganz auf das Uhrengeschäft und die Werkstatt. Dank seines außergewöhnlichen Gespürs für die Wehwehchen seiner kleinen Patienten gewann er sogar neue Kunden hinzu. Außerdem unterstützte er Lea weiterhin in ihrem Kampf um die Freilassung Johans. Bis endlich die erlösende Botschaft kam.
Die Bundesregierung hatte eine »Weihnachtsamnestie« be-
schlossen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde für die Jüdin Lea Mezei das Fest der Christenheit zu einem Freudentag. Während andere sich an Heiligabend über die Bescherung freuten, konnte sie endlich wieder ihren Mann in die Arme schließen.
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Nico fühlte sich von einer drückenden Last befreit. Er würde zwar nie wieder gutmachen können, was Johan während der Monate im Anhaltelager erlitten hatte, aber zumindest war er seiner Verantwortung nicht ausgewichen. Während andere in seinem Alter noch die Schulbank drückten, hatte er gegen die Windmühlen des Behördenapparats gekämpft und zwei liebe Menschen vor Hunger und Not bewahrt. Jetzt konnte er nach Italien zurückkehren und jenen anderen Teil seiner Schuld abtragen, der so viel schwerer wog.
Meister Johan war dünnhäutig geworden. Die Zeit im Lager
hatte ihn gezeichnet. Seine Augen lagen tiefer, und das Haar, ehemals wie Stahlwolle, war nun weißgrau. Obwohl noch immer ungebeugt, bewegte er sich so bedächtig, als hätte er Knochen aus Glas. Jede Belastung, ob körperlich oder seelisch, strengte ihn an. Die Umtriebigkeit seines Schützlings
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