Der Herr der Unruhe
Bischofs. Ihr seid doch wohl alle gute Katholiken. Wollt ihr Gottes Zorn auf euch laden?«
Der Dünne lachte. »In diesem Land ist jeder Katholik, sogar die Atheisten. Wir lassen Gott einen guten Mann sein, dann wird er uns auch nichts tun? Ich werd’s dir beweisen. Kommt Leute.«
Er winkte wie ein Kommandant die hinter ihm stehende Truppe zum Angriff.
Nico streckte den Angreifern beide Hände entgegen und rief in beschwörendem Ton: »Nein, ich werde euch das Gegenteil beweisen. Wenn ihr noch einen Schritt tut, erlischt euer Lebenslicht, so wie eure Handlampen. Hm hm-hm hm …« Er begann ein bedrohlich klingendes Lied zu summen.
Einige in der Meute lachten, aber sofort verging ihnen die Fröhlichkeit wieder, denn nacheinander erloschen sämtliche Lichter. Sogar die Straßenlaterne ging aus. Nur die Fackeln brannten noch und tauchten den summenden Jungen in ein gespenstisches Licht.
»Das gefällt mir nicht, Toni«, jammerte der Fleischberg.
»Unsinn! Nichts als Zufall.«
»Vielleicht ist er ein Medium«, rief jemand aus dem Schutz der Menge, »wie dieser Hanussen.«
Der Dünne stemmte sich gegen den Unmut seiner Truppe an.
»Ha! Dass ich nicht lache! Was ist denn aus dem großen Magier geworden? Der sieht sich schon lange die Radieschen von unten an.«
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»Vielleicht weil er mit dem Teufel im Bunde war«, gab Nico zu bedenken. »Aber ihr vergeht euch hier gegen einen, der mächtiger ist. Dem Herrn der Lichter und dem Gebieter der Zeit.«
Obwohl der Verteidiger des Ladens kaum die Stimme erhob
trug sie ungemein weit. Sogar der Letzte im Mob konnte ihn verstehen. Nico ging rückwärts bis zum Schaufenster und legte die Rechte an das Glas. Ohne den Blick von dem Pöbel zu nehmen fügte er hinzu: »Er kann euren Herzschlag auf ewig anhalten, so wie er diese Uhren stehen bleiben lässt.«
Der zuvor schon erlebte Ausfall der elektrischen Beleuchtung hatte die Meute sensibilisiert. Obwohl der Dünne ein halbherzi-ges Lachen herauspresste, starrten alle auf die drei Wand- und zwei Standuhren im Schaufenster.
Alle blieben zur selben Sekunde stehen.
»Damit will ich nichts zu tun haben«, sagte Horst, der Dicke, mit bebender Stimme, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Im Nu löste sich der Mob auf.
Zuletzt stand nur noch die Reitpeitsche da und zischte: »Ju-denkollaborateure können wir hier nicht gebrauchen. Wir kommen wieder, und dann geht’s dir an den Kragen.«
»Hier, ich hab’s gefunden«, sagte Johan und schob Nico das Buch über den Tisch. Es stammte von einem österreichischen Schriftsteller namens Hermann Bahr. Die Textstelle war die Antwort des Meisters auf eine Frage seines Gesellen: Warum begehen all diese Leute Selbstmord?
Ich habe den Tod lieb. Nicht als Erlöser, denn ich leide nicht am Leben. Nein, aber als Erfüller. Er wird mir alles bringen, was noch fehlt. Dann geht die Saat meines Lebens erst auf. Er nimmt mir nichts und gibt mir noch viel …
Nico blickte verwirrt von dem Buch auf. »Meint er das ernst?«
»Ich denke schon«, antwortete Johan schmunzelnd.
»Tod als Erlösung von Qual, das würde ich noch verstehen, 192
aber das da …« Der Junge schüttelte den Kopf. »Wie kann der Tod diesen Menschen etwas geben?« Seine Frage zielte auf die Suizidwelle ab, die nach Hitlers »Heimholung« durch ganz Österreich geschwappt war.
Johan hob Hände und Schultern. »Wer vermag das schon zu
wissen? Vielleicht haben diese bemitleidenswerten Zeitgenossen das befürchtet, was in der Nacht zum Samstag Herschel Kornblum und fast auch uns passiert ist. Übrigens hat sogar der weise Salomon gesagt, dass der Tag des Todes besser sei als der, an dem man geboren wird.«
»Das mag ja noch angehen: Erst wenn einer gestorben ist,
weiß man, was für ein Leben er geführt hat. Aber bedeutet ein Freitod nicht gerade das, wovor du mich immer warnst?«
»Was meinst du?«
»Den Strom der Zeit mit einer Staumauer aufhalten zu wollen.
Er lässt sich nicht bändigen. Man kann sich nur von ihm tragen lassen und das Beste aus der Reise machen. Ist das nicht deine Lebensregel?«
Johan lächelte. »Richtig. Weil Zeit Leben ist und Leben Zeit.
Allmählich beginnst du zu verstehen. Ich habe dir die Worte Hermann Bahrs nicht gezeigt, damit du sie dir zum Glaubens-bekenntnis machst. Aber leider erkennt man den richtigen Weg manchmal erst, wenn man ein Stück auf dem falschen gewandelt ist.«
Nico kratzte sich an der Nase. »Bin ich das denn?«
»Vielleicht in deinem Wünschen und
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