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Der Herr der Welt

Der Herr der Welt

Titel: Der Herr der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vampira VA
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Tage und Wochen meines Lebens auf ihm zugebracht. Im Sommer unter den grünen Dächern seiner kirchturmhohen Ulmenalleen, im Herbst, während das Laub unter meinen Schritten wie vertrocknetes Pergament raschelt, im Winter, wenn alle Gräber unter einem weißen Leichentuch verborgen liegen, und im Frühjahr, wenn die ersten Sonnenstrahlen ihr zartes Netz über die ersten Besucher werfen.
    Ich liebe den Friedhof zu allen Jahreszeiten. Und zu jeder Tageszeit. Meistens mache ich noch einen Spaziergang, nachdem ich die Praxis geschlossen habe. Und immer öfter führt mich mein Weg zu dem schneeweißen Grabengel. Vielleicht, weil es mit ihm eine besondere Bewandtnis hat.
    Wie ich die Krankheiten meiner Patienten auf den ersten Blick erkenne, so verfüge ich gleichfalls über die Gabe, die Todesursache der Verstorbenen zu spüren. Ich schaue auf ihre Gräber, und vor meinem inneren Auge entsteht so etwas wie eine verblaßte Photo-graphie ihrer letzten Stunden.
    Hinter dem Leid, was sich mir auf diese Weise offenbart, wirken die Grabinschriften oft wie Hohn und die heiligen Bibelverse wie spöttisches Gelächter. Ich kenne sie alle auf diesem Friedhof; die, die seit Jahrzehnten dort liegen und deren Gebeine längst vermodert sind ebenso wie jene, die im neueren Teil bestattet sind. Unter ihnen sind nicht wenige, die mir bereits als Patienten nichts vorlügen konnten. Was nicht heißen soll, daß ich sie ins Grab gebracht habe. Der natürliche Lauf der Dinge ist und bleibt nun mal der Tod.
    Trotz meiner seltsamen Gabe kann auch ich ihn letztlich nicht verdrängen.
    Anders verhält es sich mit dem Grab, über dem der weiße Engel thront. Bei ihm sehe ich diese verblaßte Photographie nicht. So sehr ich mich auch bemühe, entsteht vor meinem Auge nur eine weiße Wand - weiß wie der Marmor, aus dem der Engel gehauen ist.
    Plötzlich stehe ich vor ihm. Ich habe mich von meinen Gedanken treiben lassen und dabei kaum bemerkt, daß ich die Praxis verlassen und den Weg zum Friedhof eingeschlagen habe.
    Ich vergewissere mich, daß mich niemand beobachtet, dann berühre ich den Engel. Meine Hand fährt sanft über seine Wangen, streichelt sein Gesicht. Wie immer, so erfährt auch heute meine Geste keine Antwort. Ich sehe nur wieder diese weiße Wand vor meinen Augen, nichts sonst. Doch plötzlich taucht ein Gesicht aus dieser Weiße auf. Es ist das Gesicht von Laura Gabrini.
    Seltsam - auch bei ihr hat meine Gabe versagt. Vielleicht ist es nur die Assoziation, die mir ihr Gesicht plötzlich erscheinen läßt.
    Aber nein, es ist mehr: Ihre Gesichtszüge verschmelzen mit dem Gesicht des Grabengels. Seine marmornen Züge wirken plötzlich menschlicher denn je.
    »Wer bist du wirklich?« frage ich.
    Seine Lippen öffnen sich zu einem Lächeln. Blut fließt seine Mundwinkel herab, und Blut fließt aus seinen leeren Augenhöhlen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, das etwas den ohnehin trüben Novemberhimmel noch mehr verdunkelt. Und seltsam: Ich habe eine weitere Vision. Das Bild schwarzer Gestirne, die wie irre Marionetten im All einen Tanz aufführen. Gleichzeitig vernehme ich einen seltsamen Laut. Er scheint jenseits des grauverschleierten Himmels seinen Ursprung zu haben. Ich habe so einen Ton noch nie zuvor vernommen ...
    Ich habe es jetzt sehr eilig, zurück in die Praxis zu kommen. Der Friedhof ist menschenleer, und trotzdem habe ich das Gefühl, aus Dutzenden von leeren Augenhöhlen beobachtet zu werden. Aber wann immer ich mich umblicke, sehe ich nur die steinernen, reglosen Engel.
    Ich stolpere über einen herausgerissenen und auf den Weg geworfenen Grabstein, der mir vorher nicht aufgefallen war. Fast panikartig raffe ich mich auf, laufe weiter, bis ich die Tür zu meinem Haus erreiche und sie hinter mir zuwerfe.
    *
    Auch der Boden bestand aus der weichen, leicht nachgiebigen Masse. Nona mußte aufpassen, nicht darauf auszurutschen.
    »Hast du auch das Gefühl, daß es . lebt?« brachte Kierszan ihre Befürchtungen auf den Punkt.
    »Als wir uns trennten und mein Geistkörper hier herumirrte, habe ich das gleiche gedacht«, bestätigte sie. »Anums Palast scheint in seinen Grundfesten aus etwas Lebendigem zu bestehen. Je tiefer man kommt, um so lebendiger scheint es zu sein .«
    »Wie in einem riesigen Körper«, setzte Kierszan hinzu. »Nur die äußere Hülle ist erstarrt.«
    Allmählich näherten sie sich dem grummelnden Geräusch. Nona legte ein Ohr gegen die Wand des Ganges und lauschte.
    »Es scheint überall zu sein«,

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