Der Herr der Welt
habe mich nie damit befaßt.«
»Die multiple Skerose tritt im allgemeinen zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten Lebensjahr auf. Meistens verläuft sie in Schüben. Die Symptome, unter anderem die von Ihnen beschriebenen, bessern sich zwischendurch oder verschwinden auch zeitweise völlig. Aber sie kehren immer wieder. Die beschwerdefreien Intervalle werden immer kürzer, so daß es schließlich zur Invalidität kommt.«
Sie nimmt meine Eröffnung außerordentlich gefaßt entgegen, so daß ich es wage, fortzufahren.
»Hervorgerufen wird das Krankheitsbild durch multiple, also zahlreiche Veränderungen am Gehirn, dem Rückenmark und den Nerven. Daraus entsteht dann sozusagen eine bleibende Verhärtung der betroffenen Regionen, eine Sklerose.«
»Aber woher stammt es?«
Ich zucke mit den Achseln. »Die Ursache ist wahrscheinlich eine Immunstörung. Die Abwehrkräfte greifen irrtümlich die eigene Kör-persubstanz an.«
»Und was ... was gibt es dagegen für Mittel?«
Ich überlege einen Augenblick, ob ich ihr etwas vorlügen soll, aber es erschiene mir wie ein Sakrileg.
»Es gibt kaum eine Heilungschance«, sage ich. »Der Körper zerstört sich selbst. Sie können nur lernen, Ihr Leben erträglicher zu gestalten, durch spezielle Gymnastik und Massagen. Wichtig ist auch, daß wir gegen spezielle Infektionen sofort etwas unternehmen .«
Ich scheine an diesem Morgen wirklich alles andere als ein Heils-verkünder zu sein. Es ist beileibe nicht jeden Tag der Fall, daß ich meinen Patienten am laufenden Band derartige Hiobsbotschaften verkünden muß.
»Für den Augenblick können wir nicht sehr viel unternehmen. Ich schreibe Ihnen ein Mittel zur Stärkung Ihres Immunsystems auf.
Und etwas für die Nerven. Denn natürlich hat die multiple Skero-se, wie die meisten Krankheiten, seelische Ursachen.«
Sie erhebt sich, kleidet sich wie eine Marionette an. Es müßte Ärzten erlaubt sein, auch körperlichen Trost zu schenken. Ich habe meine Macht oft genug ausgenutzt. In diesem Fall wage ich noch nicht einmal, Laura Gabrini beruhigend die Hand zu drücken. Ich fühle mich machtlos und schwach. Ich suche verzweifelt nach einem Strohhalm, um sie nicht zu verlieren, sie nicht so einfach gehen zu lassen, aber mir fällt nichts ein. Sie zum Essen einzuladen, wage ich nicht. Ich weiß nichts von ihr, ich habe ihr gerade eine erschreckende Nachricht überbracht. Ich glaube nicht, daß sie für meinen Wunsch Verständnis hätte.
Ich werfe einen Blick auf das Anmeldeformular. Als Adresse hat sie eine Pension in der Nähe angegeben, in der Gegend des alten, verrotteten Kurparks. Ein Viertel, das ich zu meiden pflege. Nein, für den Moment fällt mir nichts ein. Ich gebe ihr den Rat, in den nächsten Tagen wiederzukommen. Sie nickt, und dann schwebt sie hinaus.
Ermattet nehme ich hinter meinem Schreibtisch Platz. Welch ein Vormittag! Und welch eine Begegnung! Warum nur, grüble ich, habe ich ihre Krankheit nicht gleich gespürt? Die objektiven Fakten sprechen alle für eine multiple Skerose.
Es ist Mittag, ich bin allein in der Praxis. Zu gern hätte ich gewußt, ob meine Gabe, Krankheiten zu erkennen, vielleicht völlig versiegt ist. So muß ich mich bis nach der Mittagspause gedulden. Ich gehe ungeduldig in meinem Behandlungszimmer auf und ab. Das Ausblick aus dem westlichen Fenster wird durch eine Jalousie verwehrt. Ich ziehe sie hoch, damit ich auf den Friedhof blicken kann. Er erstreckt sich gleich hinter dem Haus. Ein kleiner Hintereingang führt zu einem Pfad, der direkt auf den Totenacker mündet. Ich schaue gern zum Friedhof hinaus, aber natürlich möchte ich den Anblick nicht unbedingt meinen Patienten zumuten.
Es ist ein alter Friedhof. Riesig und auf den ersten Blick unüberschaubar. Grabengel aus allen Epochen wachen über seine verwinkelten Pfade. Selbst von meinem Fenster aus sehe ich die schwarzen Tränen, die der Regen auf ihren grauen Marmorleibern hinterlassen hat. Sie sind alle grau, grau und verwittert. Bis auf einen Engel: den Engel, den Laura Gabrini an diesem Morgen besucht hat und von dessen Grab sie die Erde verschlungen hat. Der Engelskörper besteht aus schneeweißem italienischem Marmor, und seltsamerweise hinterläßt auch der Regen auf seinen Wangen keine der häßlichen schwarzen Spuren.
Ich gebe zu, daß der Friedhof eine meiner Leidenschaften ist. Die drei Leidenschaften meines Lebens sind die Wissenschaft, die Liebe und der Tod. Der Friedhof symbolisiert das letztere. Ich habe
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