Der Herr der Welt
durch.
»Also gut«, sagte sie. »Auf deine Verantwortung. Nehmen wir den linken Weg.«
Der Gang führte leicht in die Höhe. Je höher sie kamen, desto heller wurde es. Nicht wirklich hell, aber zumindest wich die allumfassende Dunkelheit einer grauen Dämmerung. Es war nicht auszumachen, woher das Licht kam. Wenn überhaupt, so schien es direkt aus den Wänden zu sickern. Sie wirkten wie aus Quarz.
Weit vor ihnen tauchte ein sternenübersätes Loch auf. Der Ausgang?
Nona und Kierszan liefen darauf zu.
Als sie es erreichten, taumelten sie beide zurück. Es handelte sich tatsächlich um einen Ausgang. Allerdings befand er sich fünfzig Meter über dem Erdboden.
Draußen herrschte Nacht. Der Himmel war sternenklar. Eine merkwürdige Szenerie breitete sich unter ihren Füßen aus.
Dort unten lag ein Friedhof.
*
Erinnerungen
In der Praxis ist noch immer niemand. Es ist kaum Zeit vergangen. Ich überlege, ob ich mir eine Mahlzeit genehmigen soll, aber ich bin zu aufgewühlt.
So setze ich mich hinter meinen Schreibtisch, trinke einen dreifachen Whisky und warte darauf, daß Miss Steward kommt und die nächsten Patienten eintreffen.
Mit dem Vergnügen ist es für diesen Tag jedoch vorbei. Es scheint, als hätte sich das Schicksal vorgenommen, mir für den Nachmittag nur die unerfreulichsten Krankheiten und deren Träger zu präsentieren. Gleich der erste Patient des Nachmittags ist ein alter Bekannten Jeff Black. Über achtzig. Früher war er selbst mal Arzt, und natürlich weiß er alles besser. Sein Körper ist fett und aufgedunsen. Er riecht auf unangenehmste Weise. Seine Krankheit verwundert aufgrund seines Alters und seines Übergewichtes kaum: Er leidet seit Jahren unter Arthrose.
Ich mache gute Miene zum lustlosen Spiel.
»Hallo, Black«, begrüße ich ihn. »Wo fehlt's denn heute?«
Er murmelt einen unwirschen Gruß und klagt mir dann zum hundertsten Mal seine Leidensgeschichte. Ich höre kaum hin, bin aber beruhigt, daß meine Gabe nicht versiegt ist.
Der Nachmittag geht zähflüssig vorüber. Während ich die endlose Schlange der Patienten mehr oder weniger abfertige, steht die ganze Zeit über Laura Gabrinis Antlitz vor meinem geistigen Auge. Und mir wird klarer und klarer, daß ich sie wiedersehen muß.
Noch heute.
Ich sagte es schon: Meine drei Leidenschaften sind die Wissenschaft, der Tod und die Liebe. Die Wissenschaft, das ist mein Wirken als Arzt und Helfer, als Heiler und Gebender. Die Leidenschaft des Todes finde ich auf meinem Friedhof. Dann, wenn die Toten zu mir sprechen, wenn ich in stummer Ehrfurcht ihre Krankheitsbilder und Todesstunden vor mir sehe.
Noch nicht gesprochen habe ich von der Liebe. Ich gebe zu, daß dies das heikelste Thema ist. Die Menschen sind engstirnig und ignorant. Sie sehen nur sich und ihre kleinen spießigen Freuden, neben denen wahrhaft große Leidenschaften nie eine Chance haben werden.
Meine Abende beginnen damit, daß ich, wenn alle Patienten gegangen sind und auch Miss Steward sich verabschiedet hat, hinter meinem Schreibtisch sitze und mir durch den Kopf gehen lasse, welche meiner zahlreichen Patientinnen ich heute die Gunst meiner heimlichen Liebe verehren soll. An diesem Abend ist die Entscheidung schon Stunden zuvor gefallen.
Ich weiß ja, wo Laura Gabrini wohnt. Ich schaue auf die Uhr. Es ist noch früh, aber draußen ist es schon dunkel. Kaum jemand geht nach Anbruch der Dunkelheit noch spazieren.
Ich liebe die stillen abendlichen Straßen und fühle mich auf ihnen wie ein dunkler Fürst. Jetzt im November, während die letzten Blätter leise raschelnd von den Bäumen herunter auf die Bürgersteige schweben, fühle ich mich draußen besonders wohl.
Die abendlichen herbstlichen Nebel geben mir ein heimliches Geleit. Unter ihrem Schutz fühle ich mich geborgen und sicher.
Meine Heimatstadt eine alte Stadt. Die vielen Fachwerkhäuser, schief und halbverfallen, prägen das Bild. Die Fassaden sind grau und braun, kaum ein Farbtupfer erhellt die Tristesse. Die Bewohner scheinen keinen Ehrgeiz zu entwickeln, die Häuser und Straßen zu sanieren, und so verliert sich auch kaum ein Tourist hierher. Höchstens vielleicht sonderliche Gelehrte, die die alte Kirche auf dem östlichen Hügel der Stadt besichtigen. Ansonsten wird unsere Stadt in keinem Reiseführer erwähnt.
Es muß andere Zeiten gegeben haben: Der um die Jahrhundertwende gestaltete Park mit den Gradierwerken davor, die sich wie urzeitliche Archen auftürmen, legt ein beredtes Zeugnis
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