Der Herr des Traumreichs
anzuvertrauen.
»Ja, Maximilian.«
Er hielt inne und atmete tief ein. »Ihr müßt mir helfen. Ich bitte Euch… helft mir.«
»Sprich weiter!« bat Ravenna, und Garth berichtete, wie er Maximilian gefunden hatte. Er beschrieb auch Maximilians Zweifel, seine Weigerung, sich zu sich selbst zu bekennen, seine Überzeugung, über Tage gebe es nichts.
Venetia und Ravenna wandten sich erschüttert ab. Zu schrecklich war die Vorstellung, daß der Prinz schon so lange in den dunklen Tiefen schmachten mußte.
Garth wiederholte das Rätsel, das ihm Maximilian zugeflüstert hatte. »Wißt Ihr, was damit gemeint sein könnte, Venetia?«
Venetia kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe und wechselte einen rätselhaften Blick mit ihrer Tochter.
Garth trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Die stumme Zwiesprache zwischen Mutter und Tochter ärgerte und beunruhigte ihn zugleich. Er sah deutlich, daß sie etwas wußten, aber er fürchtete, sie würden sich einfach kopfschüttelnd abwenden.
Doch nach einer Weile antwortete Venetia: »Die ersten beiden Zeilen beziehen sich ganz klar auf eine Zeit großer Not
– und wenn es tatsächlich Maximilian ist, der da unter Tage gefangen sitzt…«
»Er ist es«, sagte Garth leise. Es klang empört.
»Wenn es Maximilian ist, der unter Tage gefangen sitzt«, wiederholte Venetia nun ihrerseits verärgert, »dann ist die Not groß.«
»Du meintest, der Manteceros sei nur ein Traum«, schaltete sich Ravenna ein und sah Garth mit ihren grauen Augen fest an. »Und du hast recht, denn genau das ist er.«
Venetia nickte. »Und in den beiden letzten Zeilen, Garth Baxtor, wird verlangt, daß wir diesen Traum freisetzen…«
»Das heißt, wir müssen ihn in diese Welt holen«, murmelte Ravenna. Ihr Blick wanderte verträumt in die Ferne, und nach einer Weile schlug sie die Augen nieder und wandte den Kopf ab.
»Damit er den wahren König herausfindet«, schloß Venetia und fügte wie zu sich selbst hinzu: »Ist Maximilian nun ein Wechselbalg, oder ist er von reinem Geblüt? Und wie soll der Manteceros feststellen, wer der wahre König ist?«
»In der Schriftrolle stand etwas von einer Prüfung«, erklärte Garth und berichtete den beiden Frauen von seiner Suche in der Bibliothek und dem wenigen, was er entdeckt hatte.
»Wenn es mehr als einen Anwärter auf den Thron gibt, muß der Manteceros die beiden einer Prüfung unterziehen.«
Venetia erschauerte, und ihr Gesicht wurde starr.
Garth zögerte. »Wollt Ihr mir helfen?« bat er noch einmal und sah die beiden nacheinander an. »Könnt Ihr den Manteceros finden?«
Venetia sah ihn fest an, dann nickte sie. »Schon möglich, mein Junge.« Ihr Ton wurde lebhafter. »Doch nun komm!« Sie wandte sich dem Tisch zu.
Garth stutzte, dann blinzelte er überrascht. Er hätte geschworen, daß dort gerade eben nur die Satteltaschen und die Päckchen mit den Kräutern gelegen hatten. Nun sah er große weiße Platten mit Brot, Käse und Wurst und daneben Krüge mit schäumendem Bier.
Er zuckte zusammen, als er Venetias Hand im Rücken spürte.
Sie schob ihn sanft auf eine der Bänke zu, die ebenso wie die Speisen aus dem Nichts aufgetaucht waren.
»Darf ich dich einladen, das Mahl mit uns zu teilen, Garth?«
fragte sie freundlich.
»Mein Vater…«, begann Garth.
»Dein Vater wird dich schon bis zum Abend entbehren können. Nun setz dich doch.«
Garth gehorchte.
»Während wir essen, werden Ravenna und ich versuchen, dir den Sumpf zu erklären.«
Venetia setzte sich auf die Bank gegenüber, aber Ravenna nahm neben Garth Platz. Er rutschte verlegen bis ganz ans andere Ende. Weder Venetia noch Ravenna schienen es zu bemerken.
Venetia schnitt Wurst und Käse auf und verteilte alles großzügig auf drei Teller, während Ravenna die Bierkrüge herumreichte.
Garth murmelte einen Dank, und nahm rasch einen Schluck.
Das würzige Bier löste seine Verspannung. »Was habe ich vorhin in dieser Hütte gesehen, Venetia?« Jetzt waren die Höhle und der Nebel verschwunden.
»Nur den Sumpf, mein Junge.« Venetia legte das letzte Stück Wurst aus der Hand und nickte ihrer Tochter zu.
»Der Sumpf ist Halbland, Niemandsland«, begann Ravenna leise. »Er liegt zwischen Meer und Land und hat von beiden etwas. Manchmal hat das Land die Oberhand, manchmal das Meer.«
»Der Sumpf bildet auch die Grenze zwischen dem Reich des Wachens und dem Reich der Träume.«
Garth schluckte einen Bissen Brot und Käse hinunter. »Es gibt ein Reich der
Weitere Kostenlose Bücher