Der Herr des Traumreichs
Augenblick schoß ein großer Vogel mit roten Schwingen dicht über ihre Köpfe hinweg, und er schrie erschrocken auf. Der Vogel hackte im Vorbeifliegen mit dem Schnabel nach ihm. Garth zog unwillkürlich den Kopf ein.
»Pst«, flüsterte Ravenna. »Er tut dir nichts. Er ist nur die Verkörperung eines Traums.«
Garth drängte sich näher an sie heran. Sein Blick schweifte wachsam nach allen Seiten. »Eines Traums?«
»Ja. Irgendwo hat jemand einen Traum, und dieser Traum handelt von diesem großen roten Vogel. Deshalb erscheint er hier.«
Nun waren auch die letzten Bäume verschwunden, und der Nebel haftete ihnen kühl und feucht an Haut und Kleidern.
Doch immer noch gluckste und schmatzte der Schlamm zu beiden Seiten des Wegs.
»Kann dieses Wesen erst lebendig werden, wenn jemand von ihm träumt?«
Ravenna nickte. »Meistens schon, es gibt freilich auch Geschöpfe, die unabhängig von einem gerade stattfindenden Traum existieren können. Der Manteceros gehört zu ihnen.«
»Vielleicht erhält der Manteceros sein Leben durch das Mal, das der König und sein Erbe tragen«, gab Garth zu bedenken.
Ravenna sah ihn überrascht an. »Ja, das könnte sein.«
»Wie finden wir ihn?«
Sie lächelte und warf ihr schwarzes Haar zurück. »Indem wir ihn rufen, Garth Baxtor. Wie sonst?«
»Rufen?«
Und Ravenna lief, Garth hinter sich her ziehend, leichtfüßig in den wogenden Nebel hinein und begann zu singen.
Ihre Stimme war klar und rein, helles Lachen schwang darin mit und das Leid einer jungen Witwe; dennoch dauerte es eine Weile, bis Garth die Worte verstand.
»Blaunarbig die Haut, von Trauer umflort,
– Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein – Die Züge verhärmt, ein Faltengesicht,
– Ein Schritt, ein Sprung, in die Hand hinein – Unförmig der Schädel, knochig und hart,
– Ein Schritt, ein Sprung, ganz frank und frei –
– Nicht schön, nicht lieblich, gewiß nicht zart.
– Ein Schritt, ein Sprung, fliegst du herbei – Von Verzweiflung umweht,
– Ein Schritt, ein Sprung, zum Himmel hoch – Die mit Ängsten sich paart.
– Ein Schritt, ein Sprung, du zögerst noch? – Wer fordert den
– Thron? schreist du. Wer ruft
– Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein – Den Traum, ruft ihn und
– Ein Schritt, ein Sprung ins Herze mein.«
Das Leid wie die Freude waren ansteckend. Garth lachte, und zugleich liefen ihm die Tränen über die Wangen. Ravennas Hand schloß sich noch fester um die seine.
»Sing mit!« rief sie, und das Haar flog ihr nur so um das blasse Gesicht. Und Garth übernahm mit seiner Baßstimme die traurigen Verse, während Ravenna mit ihrem lachenden Sopran die albernen Kehrreime einflocht.
»Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein, Ein Schritt, ein Sprung, in die Hand hinein, Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein Ein Schritt, ein Sprung, ins Herze mein.«
Garth war so hingerissen von dem schönen Gesicht und den magischen Augen, die zusehends heller erstrahlten, daß er die Suche nach dem Manteceros vollkommen vergaß. Er faßte Ravenna an beiden Händen und tanzte mit ihr über den Steig, dann nahm er sie um die Taille und schwenkte sie in die Luft.
»Ein Schritt, ein Sprung, fliegst du herbei, Ein Schritt, ein Sprung, zum Himmel hoch, Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein, Ein Schritt, ein Sprung, ins Herze mein.«
»Ach, da wäre ich mir nicht so sicher«, ließ sich hinter ihnen eine Stimme vernehmen. Garth war so überrascht, daß er Ravenna beinahe fallengelassen hätte.
Sie war ganz außer Atem vor Lachen, doch nun wurde sie schlagartig ernst und löste sich hastig aus Garths Armen. Ihre Augen verdunkelten sich, bis sie wieder ihre gewöhnliche Farbe hatten.
Hinter ihnen stand das fremdartigste Wesen, das der Junge jemals gesehen hatte. Dennoch erkannte er es sofort.
Der Manteceros.
Er grüßte Garth mit einem kurzen Nicken und schlurfte mit knirschenden Gelenken auf seinen dicken Beinen ein paar Schritte näher. Sein Blick glitt prüfend über den jungen Mann, dann richtete er sich auf Ravenna, und Garth beschlich ein seltsamer Verdacht. War die Kreatur nicht erst erschienen, als
– oder weil – er die Hände um die Taille des Mädchens gelegt hatte?
Der Manteceros nickte auch Ravenna zu, aber sehr viel freundlicher. »Störe ich? Wenn ja, dann möchte ich mich für meine Aufdringlichkeit entschuldigen. Ich sollte wohl besser wieder gehen…«
»Willkommen«, sagte Ravenna, streckte die Hand aus und trat einen Schritt auf den
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