Der Herr des Traumreichs
ihre hellen Augen strahlten durch das Halbdunkel. Garth beugte sich über die Taschen und nestelte an den Riemen.
Die Frau glitt neben ihn, schob mit ihren schlanken weißen Fingern seine Hände beiseite und löste mit kaum verhohlener Ungeduld die Verschlüsse. Garth trat rasch zurück. Seine Finger kribbelten von ihrer Berührung.
Wieder trübte sich sein Blick, die Rückwand schien zu verschwinden, als träte eine gewaltige Leere an ihre Stelle.
Garth zog zischend den Atem ein, und Venetia schaute auf.
»Was hast du?« fragte sie scharf.
»Nichts«, wehrte Garth hastig ab. »Ich bin nur ein wenig erhitzt vom Reiten.«
Venetia sah ihn forschend an, dann zog sie die ersten Päckchen aus den Satteltaschen. »Aha«, hauchte sie. »Fultat, und da ist auch das Norstil. Dein Vater weiß noch recht gut, was ich brauche.«
Garth fand endlich den Mut, von sich aus ein Gespräch anzufangen. »Was tut Ihr mit den Kräutern? Bereitet Ihr Arzneien daraus?«
Venetia strich noch einmal über die Päckchen, dann hob sie den Kopf. »Arzneien? Gelegentlich, Garth Baxtor.
Gelegentlich. Aber meistens verwende ich sie zum Träumen.«
Garth holte tief Luft. »Zum Träumen?«
Venetia seufzte, und Garth sah, daß seine Fragen ihr lästig waren. Sie hatte die anderen Päckchen aus den Taschen genommen und drückte einige davon an die Brust. Als sie ihm nun das Gesicht zuwandte, waren ihre Pupillen geweitet. »Ich danke dir, Garth Baxtor. Sag deinem Vater, die Bezahlung erfolgt wie üblich…«
Aber Garth hörte sie nicht mehr. »Was ist das?« flüsterte er entsetzt. Die Knie wurden ihm schwach, und er tastete nach der Tischkante. »Was geht hier vor?«
Doch der Tisch war nicht mehr da. Garth hätte fast das Gleichgewicht verloren. Das Innere der Hütte hatte sich binnen eines Lidschlags verändert – und nun verstand er gar nichts mehr.
Wände und Möbel waren verschwunden. Er stand in einer riesigen Höhle. Irgendwie erinnerte sie ihn an die Sümpfe draußen, denn Nebelschwaden wogten durch den Raum, und aus der Mitte drang leises Wellenschlagen zu ihm. Doch zugleich war ihm, als stünde er unter dem weiten Nachthimmel, denn die tanzenden Schatten an den Rändern verloren sich in der Ferne, und hin und wieder drang ein heller Lichtschein durch den Nebel, als durchstieße ein Mondstrahl die Wolken.
»Garth Baxtor?« hörte er Venetia neben sich fragen. Ihre Stimme klang verwundert, und sie schien unendlich weit weg zu sein.
»Ah…«
Venetia hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, nun war es an ihr, tief Luft zu holen. »Ach, so ist das«, sagte sie leise, legte die Päckchen ab, trat zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre kühlen Finger wirkten beruhigend. »Du brauchst keine Angst zu haben, Garth.«
Dankbar und verwirrt zugleich sah er sie an, wandte den Blick aber sofort wieder ab. Nebelfäden schlängelten sich durch ihr Haar, und jetzt sah er, daß ihre Augen genau die gleiche Farbe hatten wie der Nebel. »Hat mein Vater…?«
»Nein. Er hat das nie erlebt. Es gibt nur wenige, die diese Welt sehen können, und ich wüßte gern, warum gerade du zu ihnen gehörst, Garth Baxtor.« Ihre Finger schlossen sich fester um seinen Arm.
Er tat einen zittrigen Atemzug. Der Eindruck unendlicher Weite wurde womöglich noch stärker, und der Nebel schien sich zu verdichten. »Wer… was ist das… und wer seid Ihr, Venetia?«
Sie kräuselte spöttisch die Lippen. »Das ist der Sumpf, und ich bin eine Sumpffrau, mein Junge. Ich lebe in den Träumen.«
›In den Träumen?‹, wollte Garth fragen, doch da spürte er hinter sich eine Bewegung und drehte sich um. Verblüfft stellte er fest, daß die Tür tatsächlich noch an ihrem Platz war. Ein junges Mädchen – wahrscheinlich die Tochter, die er auf dem Weg nach Ruen gesehen hatte – stand in dem hellen Rechteck.
Hinter ihr war es Tag, ein harmloser, ganz gewöhnlicher Tag, und er sah den Schatten seines Pferdes, das in der Sonne döste.
Venetia ließ seinen Arm los.
»Ravenna!« rief sie herzlich und streckte die Hand nach ihrer Tochter aus. »Sieh nur, wir haben Besuch! Das ist Garth Baxtor, Joseph Baxtors Sohn.«
Das Mädchen trat ein. Sie war etwas älter, als Garth zunächst gedacht hatte – etwa so alt wie er selbst –, und sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Sie hatte die gleichen geschmeidigen Bewegungen. Das lange schwarze Haar umrahmte ein zartes Gesicht, aber die Augen waren nicht hell, sondern dunkelgrau, und der Mund war breiter und freundlicher. »Er
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