Der Herr des Traumreichs
dich finden. Warte, mein, Junge. Laß mich erklären. Dazu braucht man Kräfte, die ich nicht habe. Aber…«
Wieder lösten sich Wände und Decke der Hütte in Nebel auf.
»Aber meine schöne Tochter hat diese Kräfte.
Und das, mein Junge, ist der größte Zufall von allen. Seit drei-oder vierhundert Jahren gab es keine Sumpffrau mehr, die so stark gewesen wäre wie Ravenna. Eine Generation früher oder später, Garth Baxtor, und du hättest den Manteceros niemals gefunden. Maximilian wäre in den Adern verrottet.«
Ein Schritt, ein Sprung, o Liebster mein…
Ravenna nahm Garth an der Hand und führte ihn aus der Hütte.
Venetia blieb an der Tür stehen und folgte ihnen mit ihren seltsamen Augen, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann stieß sie einen Seufzer aus, räumte den Tisch ab und ging hinaus, um für den Rest des Nachmittags Garths Pferd zu streicheln und ihm Koseworte ins Ohr zu flüstern.
Garth ging ein paar Minuten lang schweigend hinter Ravenna her. Sie trug ein weißes Gewand aus leichtem Stoff, das ihre Arme frei ließ und eine Handspanne über ihren bloßen Füßen endete. Ringsum wurde der Nebel dichter. Garth sah sich ängstlich um.
Als Ravenna den Nebel bemerkte, blieb sie unvermittelt stehen. Garth erschrak und hielt ebenfalls inne, aber sie beachtete ihn nicht, sondern beugte geschmeidig das Knie, faltete die Hände über dem Herzen und neigte den Kopf zu einem kurzen Gebet.
»Verzeih die Störung, o Herr des Traumreichs«, murmelte sie. »Ich bitte um Vergebung und Nachsicht.«
Sie erhob sich. Garth runzelte die Stirn. Was meinte sie mit dem ›Herrn des Traumreichs‹?
Ravenna drehte sich um, als hätte sie seine Gedanken gehört, und lächelte ihm beruhigend zu. »Alle Sumpffrauen bitten Drava um Verzeihung, bevor sie sein Reich betreten, Garth Baxtor, und um Nachsicht, wenn sie mit ihren Füßen auf seinen Pfaden wandeln.«
Garth machte große Augen, und Ravenna lächelte. »Keine Sorge, junger Heiler. Drava verbirgt sich so tief in den Träumen, daß selbst wir, seine Mägde, ihn noch nie gesehen haben – obwohl er oft unsere Seele berührt. Komm, nimm meine Hand und laß dich über die Grenze ins Reich der Träume führen.«
Ihre Hand war warm und gab ihm Sicherheit. Garth wurde ein wenig ruhiger. Sie nahmen denselben Weg, auf dem er hergeritten war. Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Garth sah staunend, wie selbstverständlich Ravenna barfuß über die spitzen Steine lief.
»Ich spüre sie nicht, Garth Baxtor«, sagte sie. Ihm stockte der Atem, und bevor er sich wieder gefaßt hatte, erzählte sie ihm etwas mehr über den Sumpf.
»Nur wenige von uns wohnen noch hier im Niemandsland, Garth Baxtor. Und es sind ausschließlich Frauen. Wir halten Wache und passen auf, daß – in keiner Richtung – ein Unheil die Grenze überschreitet.«
»Du meinst, auch Wesen aus unseren Träumen könnten in diese Welt herüberwechseln?«
Sie lächelte, und plötzlich wirkte ihr Gesicht sehr jung. »O ja, das können sie.« Sie zog die schwarzen Augenbrauen hoch.
»Genau das willst du erreichen, nicht wahr? Du willst den Manteceros aus seinem Reich in das unsere holen!«
»Ja«, nickte Garth leicht beklommen. »Ich denke schon.«
»Ich sehe und spüre dein Unbehagen, Sohn eines Heilers, und ich verstehe es auch. Wäre es nicht schrecklich, wenn etwa unsere Alpträume die Grenze überschritten?«
»Könnt ihr das verhindern?«
»Wir tun unser Bestes. Und nun halt dich fest, denn wir betreten das Reich der Träume.«
Garth spürte dankbar, wie der Druck ihrer Finger stärker wurde. Er sah sie von der Seite an, doch diesmal schirmte er seine Gedanken gut ab. Ob wohl alle Sumpffrauen so schön waren wie sie und ihre Mutter? »Wo ist dein Vater, Ravenna?«
Die Frage überraschte sie. Fast wäre sie gestrauchelt. Sie drehte sich um und sah ihn aus großen Augen an. »Ich habe keinen Vater, Garth Baxtor. Und nun bleib an meiner Seite und laß meine Hand nicht los.«
Damit ging sie weiter und zog Garth hinter sich her.
Irgendwann wurde ihm bewußt, daß sie den Weg verlassen hatten und einem schmalen Steig folgten, der tiefer in den Sumpf hineinführte. Zu beiden Seiten plätscherte das Wasser, und der Schlamm schmatzte; gelegentlich ragte noch ein Baum aus dem Nebel, aber das Vogelgezwitscher war verstummt, und das Rauschen der Brandung klang sehr fern, obwohl sie –
soweit Garth feststellen konnte – geradewegs auf die Küste zuhielten.
»Wo…«, begann er, doch in diesem
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