Der Herr des Traumreichs
Manteceros zu. Garth stand immer noch wie erstarrt mit offenem Mund da.
»Du bist willkommen«, fuhr Ravenna fort, »denn du wirst dringend gebraucht.«
Um den Mund des Wesens zuckte es wie ein Lächeln. »O«, murmelte es, »da wäre ich mir nicht so sicher.«
Ravenna lächelte und trat noch näher, bis sie seine plumpe Nase berühren konnte. »Mein Name ist Ravenna, und hinter mir steht Garth Baxtor.«
Der Manteceros tat so, als sei Garth gar nicht da. »Ich habe dich oft in den Nebeln gesehen«, sagte er leise. Ravenna kraulte ihm liebevoll die Nase, und er entspannte sich unter ihrer Hand. »Wenn du lachend durch die Träume und das Niemandsland sprangst, ohne mich traurigen Gesellen überhaupt zu bemerken. Ach, Ravenna, ich warte schon seit Ewigkeiten darauf, daß du an mich denkst und mich mit deinem Lied rufst.«
»Nun habe ich für dich gesungen«, flüsterte sie und legte ihm die Arme um den Hals. »Und hier bin ich.«
Der Manteceros erschauerte, und Garth hatte fast den Eindruck, er sei den Tränen nahe. Minutenlang standen die beiden dicht beieinander, und Garth hatte ausgiebig Gelegenheit, das blaue Fabelwesen zu betrachten, nach dem er in Maximilians Auftrag so lange gesucht hatte.
Der Manteceros war genauso häßlich, wie er im königlichen Wappen dargestellt war. Ein unförmiger Kopf, ein ungeschlachter Körper, Beine wie Baumstämme, die sich zu klobigen Füßen verdickten. Von der pockennarbigen Haut über die steife Mähne bis zu den quadratischen Zehennägeln leuchtete alles in verschiedenen Blautönen. Als er endlich den Mund öffnete, sah Garth, daß sogar seine Zähne bläulich schillerten.
Außerdem umhüllte ihn einer Wolke gleich eine tiefe Traurigkeit – eine Traurigkeit freilich, die sich so sehr mit Weisheit paarte, daß Garth sich unwillkürlich fragte, ob nicht die Weisheit Ursache für die Trauer sei.
Vielleicht, schoß es ihm plötzlich durch den Sinn, ist abgrundtiefe Verzweiflung etwa die Summe allen Wissens?
»Ich muß dich fragen«, ließ sich der Manteceros endlich mit hörbarem Bedauern vernehmen, »was dich bewogen hat, mich gerade jetzt aufzusuchen?«
»Ein trauriger Anlaß«, antwortete Ravenna und trat zurück.
»Das wundert mich nicht«, bemerkte der Manteceros. »Bin ich nicht nur von Leid umgeben?«
»Garth?« Ravenna winkte, und Garth trat näher. »Garth?
Würdest du dem Manteceros sagen, warum du zu ihm gekommen bist?«
Der Manteceros richtete seine allwissenden Augen auf Garth.
Der mußte sich erst räuspern, bevor er sprechen konnte.
»Manteceros.« Garth zögerte, dann verbeugte er sich ruckartig aus der Hüfte heraus. Er wußte nicht so recht, wie er das Wesen behandeln sollte, aber immerhin war es das Wappentier des Hauses Escator und verdiente schon allein deshalb seine Ehrerbietung.
Der Manteceros nickte huldvoll.
»Manteceros, ich möchte dich bitten, dich in die Welt der Lebenden zu begeben.«
Der Manteceros blähte die Nüstern, und seine Augen flammten bedrohlich auf. »O, da wäre ich mir…«
»Bitte!« Garth streckte flehentlich die Hände aus. »Escators rechtmäßiger König wird in den Glomm-Minen gefangen gehalten, man verweigert ihm nicht nur seinen Thron, sondern enthält ihm sogar den freien Himmel und die frische Luft vor.«
»Der Thron ist nicht verwaist, es gibt einen König«, antwortete der Manteceros bedächtig und sah Garth mit wachen Augen an. »Seine Forderung war Rechtens, ich erinnere mich gut. Der Anwärter hatte den Segen des eben verstorbenen Herrschers.«
»Cavor«, sagte Garth. »Ja, Cavor sitzt derzeit auf dem Thron.
Aber der rechtmäßige König ist Maximilian, und er muß gerettet werden. Manteceros, wirst du die Grenze überschreiten, um ihm zu helfen?«
»O, ganz gewiß nicht!« rief der Manteceros. »Nicht ohne triftigen Grund.«
»Nicht ohne triftigen Grund?« fragte Garth verblüfft. »Was willst du damit sagen?«
»Ich glaube«, schaltete sich Ravenna behutsam ein und sah erst Garth und dann den Manteceros an, »der Manteceros meint folgendes: Da bereits ein König auf dem Thron sitzt, kann er das Reich des Wachens nur betreten, wenn es einen triftigen Grund dafür gibt. Ein triftiger Grund wäre vielleicht…
eine Gegenforderung?« Sie zog die Augenbrauen hoch und sah das Wesen fragend an.
»Genau«, nickte der Manteceros. »Eine zweite Forderung wäre ein triftiger Grund. Wenn ein Rivale Anspruch auf den Thron erhebt, bin ich verpflichtet, dazu Stellung zu nehmen.«
»Heißt das, du willst
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