Der Herr des Traumreichs
den Anblick der blau gefrorenen Zehen kaum ertragen, die unter dem Mantelsaum hervorlugten.
Immer wieder erbot er sich, ihr ein Paar fester Stiefel zu kaufen, aber davon wollte Ravenna nichts hören.
»Eine Frau aus den Sümpfen trägt keine Schuhe«, sagte sie.
»Wenn wir den Boden nicht hautnah spüren, fällt es uns schwerer, auf den Traumpfaden zu wandeln.«
Wenn sie sich trafen, kauerten sie sich in irgendeiner Gasse hinter dem Hafen oder auf dem Marktplatz unter ein vorspringendes Dach, wo sie vor dem Regen geschützt waren, und redeten endlos über Maximilian. Ravenna fragte Garth nach jeder einzelnen Minute aus, die er in den Adern verbracht hatte – nicht nur nach Maximilian selbst (von dem sie offenbar nie genug hören konnte), sondern auch nach den Schächten und Stollen, nach der Entfernung zum Meer und sogar danach, wie sich die Luft im Innern des Bergwerks anfühlte.
»Warum willst du das alles wissen?« fragte Garth eines Tages, als sie am Hafen unter der Rampe eines leerstehenden Lagerhauses saßen. Vom Meer wehte ein scharfer, kalter Wind herein, und beide hatten sich fest in ihre Mäntel gewickelt.
»Wir müssen Maximilian aus den Adern holen«, begann Ravenna.
»Wir?« fragte Garth spöttisch.
»Wie sieht denn dein Plan zu seiner Rettung aus?« gab sie heftig zurück, und Garth wurde rot. Neben Ravenna fühlte er sich gelegentlich wieder wie ein kleiner Junge, der noch an Mutters Rock hing.
»Du hast natürlich die ideale Lösung!« trumpfte er auf.
Sie schürzte die Lippen und sah ihn mit ihren großen grauen Augen nachdenklich an. Manchmal hatte Garth den Eindruck, sie würden allmählich so hell wie die Augen ihrer Mutter, aber bei diesem Licht erschienen sie so dunkel wie immer.
»Könnte schon sein. Nein, warte! Ich muß mir das alles noch genauer überlegen, aber mitnehmen mußt du mich auf alle Fälle. Allein schaffst du es nicht.«
Garth schwieg eine Weile und kämpfte seinen Groll nieder.
»Ließe deine Mutter dich denn zu den Adern reisen?« fragte er schließlich.
»Meine Mutter vertraut mir«, antwortete sie schlicht und umschlang die Knie mit ihren kalten weißen Händen. »Und sie glaubt an mich. Außerdem bin ich genauso alt wie du, Garth Baxtor. Wenn dein Vater dich in die Glomm-Minen einfahren läßt, warum sollte meine Mutter es mir dann verbieten?«
»Weil ein Mädchen dort nichts zu suchen hat«, brummte Garth. Sein Beschützertrieb war stärker als sein Groll.
»Maximilian braucht uns beide«, sagte Ravenna ruhig und nahm seine Hand.
Als er ihre Finger spürte, war Maximilian vergessen.
»Ravenna!« rief er erschrocken. »Deine Hände sind ja wie Eis!
Komm, wir suchen uns einen Platz, wo du dich aufwärmen kannst.«
»Und wo soll das sein? Vielleicht bei deiner Mutter in der Küche?« Ravenna wußte, daß Garth sich seinen Eltern noch immer nicht anvertraut hatte. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Wie wollte Garth seiner Mutter erklären, daß er ihr ausgerechnet ein Mädchen aus den Sümpfen ins Haus brachte?
»Ich weiß!« Garths Gesicht leuchtete auf. »Wir gehen in die Bibliothek. Vielleicht finden wir dort die Lösung des Rätsels, das uns der Manteceros gestellt hat – du weißt schon, wie ein Thronanwärter seine Forderung vorzubringen hat.«
Er zog Ravenna auf die Beine. Sie ließ es geschehen. »Aber du sagtest doch, du hättest mit diesem Mönch – hieß er nicht Harrald? – jede Schriftrolle und jedes Buch durchsucht, die irgendwie von Nutzen sein könnten. Und ihr habt nichts gefunden.«
»Das stimmt, aber…« Garth war jetzt Feuer und Flamme für seinen Einfall. Warum war ihm der Gedanke nicht schon früher gekommen? Mit der freien Hand tastete er kurz nach dem Medaillon unter seinem Hemd.
»Aber…was?«
»Aber da hatte ich das Rätsel des Manteceros noch nicht gehört. Danach hatte ich in der Bibliothek nicht gesucht. Nun komm schon.«
Seine Begeisterung war so ansteckend, daß Ravenna sich nahezu widerstandslos durch die fast leeren Gassen zerren ließ.
Sie fragte nur: »Wird man mich denn einlassen? Ein Mädchen aus den Sümpfen?«
»Die Mönche sind sehr freundlich«, erklärte Garth und winkte ab, aber Ravenna hatte ihre Zweifel. Unter den Vorurteilen der Stadtleute gegen das Sumpfvolk verdunstete Freundlichkeit oft so schnell wie ein Tautropfen unter der Morgensonne.
Aber der rundliche ältere Mönch, der die beiden in der Eingangshalle in Empfang nahm, musterte sie nur – mit unverhohlener Mißbilligung
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