Der Herr des Traumreichs
zusammen, aber er hatte gelernt, Schmerzen und andere Unannehmlichkeiten zu verdrängen. Er drehte nur den Kopf nach rechts und genoß es, mit seinen Gedanken allein zu sein.
Die Ketten fielen ab. Sträfling Nummer
achthundertneunundfünfzig wurde zwar scharf bewacht, konnte sich aber frei bewegen, während der Tote zum nächsten Schacht geschleift und in die zerklüfteten Tiefen gestürzt wurde.
Ein Schwindel erfaßte ihn, verzweifelt sah er sich um. Hatten ihn die Wärter allein zurückgelassen, sollte er hier verrotten?
Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig fürchtete nichts mehr, als im Dunkeln allein – und frei zu sein. Doch schon erschien ein Wärter mit einer Kette in der Hand, an der ein neuer Mann hing. Sträfling Nummer
achthundertneunundfünfzig atmete erleichtert auf. Er haßte es, ohne Fesseln zu sein. Er haßte das Gefühl, genügend Raum zu haben, sich ungehindert bewegen zu können. Als man ihn an seinen neuen Gefährten kettete, blitzten seine Zähne kurz auf.
Als die Wärter die Kolonne an die Arbeit zurückschickten, begann die alte Narbe am Arm von Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig zu brennen, und er hob zerstreut die Hand und kratzte sich. In letzter Zeit machte sie sich öfter unangenehm bemerkbar.
Doch auch das war schnell vergessen, als er wieder die Hacke schwingen durfte und seine sich Muskeln im immergleichen Rhythmus spannten und lockerten.
Und ringsum wirbelte der Glommstaub auf.
Im Thronsaal des Palasts zu Ruen zischte Cavor einen lästerlichen Fluch. Der Abszeß über seinem Mal war aufgebrochen, und der Eiter hatte die Verbände durchweicht.
Nur mit Mühe führte er die Audienz mit dem Gesandten aus dem Achten Reich des Ostens zu Ende, dann verließ er hastig den Saal.
»Wo ist Oberon Fisk?« schrie er draußen den Gardisten an.
»Schickt mir sofort meinen Leibarzt!«
Er erreichte seine Privatgemächer, trat ein und schlug die Tür hinter sich zu. »Verdammt!« murmelte er. »Verdammt und noch einmal verdammt! Warum kann das Ding nicht heilen?«
Als Cavor sich endlich zur Ruhe legte – der Arm war in dicke Kräuterumschläge gepackt, die aber den Schmerz nicht linderten –, plagten ihn schlimme Träume. Er irrte irgendwo durch die Dunkelheit, allein und ohne Hoffnung, jemals den Weg ins Freie zu finden. Dabei tastete er mit dem linken Arm über die Bettdecke, bis er seine Gemahlin weckte.
»Wo bist du?« murmelte er. »Wo? Warum bist du nicht dort?«
Und als es ihm endlich gelungen war, das dunkle Labyrinth zu verlassen, da träumte ihm, er stünde wieder vor dem Manteceros, um ein zweites Mal den Thron von Escator zu fordern.
Doch diesmal nickte der Manteceros nicht ganz selbstverständlich mit dem Kopf.
Statt dessen runzelte er die Stirn, trat verlegen von einem seiner dicken Beine auf das andere und richtete den Blick auf etwas – oder jemanden –, der rechts hinter Cavor stand.
»Oh«, murmelte er verdrießlich, »da wäre ich mir nicht so sicher.«
Der Persimius-Orden
Die nächsten Monde waren für Garth schier unerträglich. Alles in ihm schrie, er müsse zurück in die Glomm-Minen, um Maximilian zu retten – vielleicht überlebte er dieses Jahr gar nicht mehr? –, aber er hatte keinen Grund und erst recht keine Gelegenheit, nach Norden zu reisen, bevor sein Vater das nächste Mal zu seinem dreiwöchigen Arbeitseinsatz aufgerufen würde. Garth nützte das Warten, um soviel von der Heilkunst zu erlernen, wie ihm sein Vater in seiner knapp bemessenen Zeit beibringen konnte, denn er ahnte, daß Maximilian jede nur erdenkliche Hilfe brauchen würde – besonders wenn er die Überzeugung überwinden sollte, über Tage warte kein Leben auf ihn. Joseph und Nona wunderten sich über den Eifer und die Ausdauer ihres Sohnes, dachten aber, er habe einfach eine neue Entwicklungsstufe auf dem Wege vom Kind zum Mann erreicht.
Garth und Ravenna sahen sich häufig. Joseph schickte seinen Sohn zwar nur noch einmal zu Anfang des Winters in die Sümpfe, weil Venetia eine neue Kräuterlieferung bestellt hatte, aber Ravenna schlich sich heimlich nach Narbon, wenn sie wußte, daß Garth einen freien Vormittag oder Nachmittag hatte. Als das Wetter schlechter wurde, hüllte sie sich in einen dunkelgrauen Mantel und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, damit niemand das Sumpfmädchen auf den Straßen der Stadt erkannte – manch einer hätte sonst die Wache gerufen, um sie fortschaffen zu lassen. Aber sie trug noch immer keine Schuhe, und Garth konnte
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