Der Herr des Traumreichs
Ravenna wechselten einen mißtrauischen Blick, dann schoben sie die Bank zurück und eilten ihm nach.
Vorstus verließ den Saal durch eine kleine Pforte am hinteren Ende und durchschritt mehrere schmale, schwach erleuchtete Korridore. Vor einer geschlossenen Tür blieb er stehen und legte die Hand auf ihren Knauf.
»Ich kann alles erklären«, wiederholte er und grinste verschmitzt. Sein schmales Falkengesicht wirkte plötzlich um Jahre jünger. »Glaubt mir!« Dann trat er ein.
Der Raum war klein, aber behaglich. Das große Fenster ging auf einen kleinen Gartenhof hinaus – Garth sah, daß es draußen immer noch nieselte. Im Kamin flackerte ein Feuerchen. Davor standen mehrere Sessel. Vorstus machte eine einladende Handbewegung.
»Setzt Euch bitte.«
Garth gehorchte. »Wer seid Ihr?« fragte er dann.
Vorstus ließ sich auf der anderen Seite des Kamins in einen Sessel sinken. »Ich heiße wirklich Vorstus, und ich bin wirklich ein Mönch.«
»Wenn Ihr Euch nicht gerade als Straßenhändler verkleidet«, murmelte Garth und erinnerte sich, wie der Mann und seine Ware auf unerklärliche Weise binnen eines Lidschlags verschwunden waren.
Vorstus’ Lächeln wurde breiter, aber er ging auf die Bemerkung nicht weiter ein. »Ich hätte allerdings nicht damit gerechnet, in dieser Bibliothek eine Frau aus den Sümpfen anzutreffen. Ich dachte immer, die Herrinnen der Träume hielten nicht viel von der Welt der Bücher.«
Ravennas Augen wurden groß und – Garth entging es nicht –
auch heller. »Ich gehe jeden Weg, der mich zu einer Lösung führen könnte«, sagte sie leise. »Aber mich dünkt, Ihr werft mehr Rätsel auf, als Ihr Lösungen bietet.«
Vorstus holte tief Luft, lehnte sich in seinem Sessel zurück und trommelte mit den Fingern auf die Armlehnen. »Ich werde Euch einige meiner Geheimnisse verraten – nicht alle, wohlgemerkt. Dann könnt Ihr Euch überlegen, ob Ihr im Gegenzug auch einige von den Euren mit mir teilen wollt.
Bruder Jorgan kennt mich nur als Bruder Vorstus aus der Ordensfiliale in Ruen, der nach Süden gekommen ist, um Narbons zu Recht berühmte Bibliothek zu besuchen. Das ist soweit die reine Wahrheit. Doch neben meinem Stammorden gehöre ich einer« – er zögerte – »etwas weniger fest gefügten Gemeinschaft an, die den Namen – und ich möchte Euch bitten, darüber mit niemandem zu sprechen – Persimius-Orden trägt.«
»Persimius ist der Name des alten Königshauses«, sagte Garth langsam. »In welcher Beziehung steht es zu Eurem Geheimbund?«
»Warm, junger Mann, sehr warm. Unsere Bruderschaft wurde vor langer Zeit von einem König namens Nennius gegründet…«
»Das war der König, der den Manteceros zu seinem Wappentier wählte!« rief Garth.
»Pst!« zischte Vorstus ärgerlich. »Diese Wände sind nur eine Steinschicht dick. Ja, derselbe. Das Ziel unserer Gemeinschaft ist die Bewahrung der Persimius-Dynastie.« Er berührte die Tätowierung auf der Rückseite seines rechten Zeigefingers, die Ravenna schon vorher aufgefallen war. Sie hatte die Form eines Federkiels. »Dies ist unser Zeichen. Daran könnt Ihr jederzeit erkennen, wer zu uns gehört.«
»Und Ihr habt es Euch zur Aufgabe gemacht, die Familie Persimius zu beschützen?« Ravenna lächelte unschuldig und streckte dankbar die Füße in die Wärme des Feuers. Doch dabei musterte sie Vorstus mit durchdringendem Blick. »Das ist Euch in letzter Zeit wohl nicht allzugut gelungen.«
Garth grinste hinter vorgehaltener Hand, und Vorstus zeigte ein schuldbewußtes Gesicht.
»Hexe! Aber zugegeben, wir waren pflichtvergessen, und das belastet unser Gewissen. Garth.« Wieder holte er tief Atem, und jetzt bemerkte Garth, daß er zitterte. »Garth, wir wissen, daß Ihr Maximilian in den Glomm-Minen gefunden habt.«
Lange war nichts zu hören als das Prasseln des Feuers und der Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte.
»Äh…« Garth suchte Zeit zu gewinnen und warf Ravenna einen flehentlichen Blick zu.
»Wir wissen es, Garth«, wiederholte Vorstus. »Seit sechzehn Monden haben wir einen Verdacht, wo Maximilian sich aufhalten könnte. Seither behalten wir die Glomm-Minen und alle, die dort ein-und ausgehen, ständig im Auge. Und nun stellt Euch unsere Überraschung vor, als Joseph Baxtors junger Sohn nach drei Wochen in den Adern zurückkehrt, sich auf dem Marktplatz nach dem Manteceros erkundigt und in dieser Bibliothek nach Hinweisen sucht, in welcher Beziehung dieses Fabelwesen zur Familie Persimius
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