Der Herr des Traumreichs
stehen könnte! Als ich, als Händler verkleidet, auf dem Markt erschien, flogen Eure Hand und Euer Blick sofort dem Medaillon mit dem Manteceros zu –
eine kleine Prüfung, die ich mir ausgedacht hatte –, und nun erscheint Ihr, um das Maß vollzumachen, mit einer Herrin der Träume hier in unserer Bibliothek. Mit einer der Frauen, die Euch zum Manteceros führen könnten. Sagt mir, habt Ihr mit ihm gesprochen?«
Garth war die Kinnlade heruntergefallen, aber Ravenna sah den Mönch fest an und antwortete. »Ja, ich habe Garth mit dem Manteceros zusammengebracht.«
Vorstus zog die Augenbrauchen hoch. »So jung und schon soviel Macht. Bemerkenswert.«
»Der Manteceros wollte uns nicht helfen, Maximilian zu retten«, erklärte Garth ohne Umschweife. Wozu noch schweigen, nachdem Ravenna gesprochen hatte?
»Das kann ich mir denken«, sagte Vorstus. »Er hatte Cavor den Thron bereits zugesprochen. Deshalb wäre es sicher nicht in seinem Sinn, wenn sich ein zweiter Anwärter meldete. Der Manteceros liebt geordnete Verhältnisse, eine Gegenforderung stört die Ordnung, und deshalb wehrt er sich dagegen.«
»Woher habt Ihr von Maximilian erfahren?« fragte Ravenna.
Vorstus legte die Fingerspitzen aneinander und hob den Blick zur Decke. »Wir sind ein kleiner Orden, der gern für sich bleibt, aber wir sind nicht völlig unbekannt. Vor sechzehn Monden wurde ein kleiner Adliger – sein Name tut hier und jetzt nichts zur Sache – von der zehrenden Krankheit befallen, und bevor er starb, bat er unseren Abt, an sein Sterbebett zu kommen.«
»Euch selbst also«, bemerkte Garth, der Vorstus aufmerksam beobachtet hatte. Der Mann strahlte Autorität aus.
»Ja, mich selbst. Er hatte den Wunsch, ein Verbrechen zu bekennen, das er vor vielen Jahren begangen hatte und das seither sein Gewissen schwer belastete. Er erzählte, er sei damals beteiligt gewesen an einer… vielleicht sollten wir es Entführung nennen? Ja. Das trifft es gut. Eine Entführung. Ein Junge, nicht älter als vierzehn Jahre, wurde von einer Gruppe von Männern verschleppt. Die Täter handelten im Auftrag einer Person, deren Namen der Mann nicht einmal auf seinem Sterbelager nennen wollte. Sie bemächtigten sich des Jungen und brannten ihm das Mal aus dem rechten Arm. Die Qual muß unerträglich gewesen sein.«
»Das Mal ist immer noch da«, murmelte Garth. Er war den Tränen nahe. »Unter dem Narbengewebe.«
»Tatsächlich?« Zum ersten Mal zeigte Vorstus sich aufgeregt. »Ist das wahr? Nun, um so besser.«
»Und was geschah dann, Abt Vorstus?« fragte Ravenna. Ihre Augen hatten sich bei der Erinnerung an Maximilians Leiden verdunkelt.
»Bitte, nennt mich nur Bruder«, bat Vorstus und sah sich hastig um. »Niemand hier ahnt etwas von meiner wahren Stellung.« Er hielt inne und ging dann auf Ravennas Frage ein.
»Drei von den Männern fesselten den Jungen – inzwischen hatte er das Bewußtsein verloren – und schleppten ihn fort.
Mein sterbender Sünder wußte nicht genau, wohin… aber er hatte einen Verdacht.«
»In die Adern.«
Vorstus nickte. »Jawohl, Garth, in die Adern. Aber wir konnten nicht sicher sein, und wir hatten keine Möglichkeit, uns zu vergewissern. Selbst wir mit unseren Künsten können nicht in die Tiefen der Erde schauen… und unten braucht man keinen Mönch, um den Sterbenden die Beichte abzunehmen.
Sie gehen von den Adern geradewegs in die Feuerhöhlen des Jenseits ein.«
Bei dem Wort ›Künste‹ mußte Garth wieder an Vorstus’
rätselhaftes Verschwinden auf dem Marktplatz denken.
»Welche ›Künste‹?« fragte er argwöhnisch, Ravenna dagegen lächelte den Mönch nur vielsagend an.
»Unser Orden hatte sich zwar der Bewahrung der Persimius-Dynastie geweiht«, sagte Vorstus, »doch da die Familie über viele Jahrhunderte unter Escators Sonne aufs prächtigste gedieh und weise Herrscher hervorbrachte, hatten wir lange Zeit nichts weiter zu tun, als alte Künste und Schriften zu studieren. Garth, Escator war einmal viel bedeutender als heute.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Escator war einst das Zentrum der Gelehrsamkeit in der bekannten Welt – aus den Reichen des Ostens kamen viele Männer angereist, um an unseren Hohen Schulen und Akademien zu studieren. Narbon beherbergte die größte Universität, aber auch Ruen, Harton und sogar Sorinam im Norden hatten angesehene Hochschulen. Sie alle sind nicht mehr.«
»Was ist geschehen…«, begann Garth, aber Vorstus hob die Hand.
»Gleich, mein Junge! Einst
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