Der Herr des Traumreichs
bei Hof ist für dich sicher eine schöne Abwechslung, Garth. Ich kann mich noch gut erinnern, wie dir eine gewisse Maid das Blut in die Wangen trieb, als wir das letzte Mal dort speisten.«
Doch jetzt blieben Garths Wangen blaß – und auch das ist neu, dachte Joseph.
»Gut. Ich freue mich darauf, den König wiederzusehen.«
Einen Tag vor Beginn der Reise nach Norden wartete Garth, bis sein Vater nach der Sprechstunde die Behandlungsräume verlassen hatte, dann eilte er zum Hafen. Joseph hatte wieder einmal kein Ende gefunden, und er befürchtete, zu spät zu kommen.
Aber er schaffte es noch rechtzeitig. Die Kräne hatten noch nicht alle großen Netze mit Vorräten an Bord gehievt, und die Fahrgäste schlenderten am Kai auf und ab.
»Vorstus«, hauchte er endlich erleichtert und trat an eine vermummte Gestalt heran.
Der Mönch fuhr herum, und sein Gesicht hellte sich auf, als er Garth erkannte. »Da seid Ihr ja, mein Junge! Ich dachte schon, Ihr kommt nicht mehr!«
»Vater hat mich so lange aufgehalten.« Garth musterte ängstlich die kleine Gruppe hinter Vorstus. »Ist sie nicht…?«
»Hier bin ich, Garth.« Ravenna trat vor. Die beiden sollten mit dem Frachtschiff nach Norden fahren und schon im kleinen Hafen Estorn, einen Tagesritt südlich von Myrna und den Adern, an Land gehen. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, wollten sie lieber nicht an einem Ort aussteigen, wo sie nichts zu suchen hatten.
Garth sah Ravenna forschend an. Jemand – wahrscheinlich Vorstus – hatte sie endlich überreden können, Sandalen mit dünnen Sohlen anzuziehen, aber sie fand sie sichtlich unbequem und würde sie vermutlich ausziehen, sobald das Schiff auf See und sie vor neugierigen Blicken geschützt war.
Sie trug immer noch ihr schlichtes weißes Kleid, aber jetzt war es unter einem gut geschnittenen Mantel aus roter Wolle verborgen. Das Haar hatte sie zu festen Zöpfen geflochten und aufgesteckt. Damit entsprach sie genau der Rolle, die sie spielen wollte – Vorstus’ Nichte, die mit ihrem Onkel nach Norden reiste, um Verwandte zu besuchen.
Nur ihre grauen Augen waren immer noch voller Geheimnisse – und wurden zunehmend heller. Hoffentlich paßt Vorstus gut auf sie auf, dachte Garth.
Ravenna sah seine Bedenken und lächelte. »Wir sind vorsichtig, Garth«, versprach sie, beugte sich vor und überraschte ihn mit einer stürmischen Umarmung. Er war entzückt. »Wenn ihr an den Minen eintrefft, erwarten wir euch.«
In den vergangenen Monden hatten Vorstus, Ravenna und Garth eingehend erörtert, wie sie den lebendig begrabenen Maximilian retten sollten. Aus den Gesprächen war ein Plan entstanden, der in Garths Augen freilich große Schwächen hatte. Wenn ihnen auch nur der kleinste Fehler unterlief, würden sie allesamt bei Maximilian in den Adern landen.
»Dein Vater erlaubt doch, daß du mit in den Norden reist?«
fragte Ravenna und löste sich von ihm. Garth nickte.
»Ja, wenn auch erst nach einigem Hin und Her. Mutter ist nicht glücklich darüber und mästet mich, solange sie noch kann, aber ich bin auf jeden Fall dabei.« Wieder sah er sich um. »Ist Venetia nicht gekommen?«
Ravenna ließ ihn endgültig los und lächelte. »Nein, sie wollte nicht in die Stadt… aber sie hat versprochen, am Rand des Sumpfes zu warten und mir zuzuwinken. Ich werde sie schon sehen.«
Vorstus nahm Ravennas Arm. »Kommt, mein Kind! Der Bootsmann drängt. Wir müssen an Bord.«
Garth zögerte, dann reichte er Vorstus die Hand. »Viel Glück.«
Vorstus schüttelte sie herzlich. »Euch auch, mein Junge.
Kommt jetzt, Ravenna.« Er schob das Mädchen auf das Schiff zu, doch sie drehte sich noch ein letztes Mal um.
Der Kai leerte sich rasch. Garth blieb einsam und verlassen zurück und winkte mit der Hand. Ravenna eilte über die Planke an Bord.
»Maximilian«, flüsterte sie. »Wir kommen.«
Garth wußte nicht, ob Venetia tatsächlich an der Küste gewartet und ihrer Tochter einen letzten Abschiedsgruß geschickt hatte, aber als er und sein Vater am nächsten Morgen vorbeiritten, stand sie vor ihrer Hütte und hob kurz den Arm.
Joseph sah seinen Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Mir scheint, du hast eine Freundin gewonnen.« Aber Garth grinste nur und winkte zurück. Er war an diesem Morgen in Hochstimmung. Endlich kamen die Dinge ins Rollen. »Sie könnte auch dich gemeint haben, Vater. Sie hat dich das ganze letzte Jahr nicht gesehen, vielleicht hat sie dich vermißt.«
Joseph schnaubte nur und richtete den Blick
Weitere Kostenlose Bücher