Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
nur noch schwer erklären, warum eigentlich Christen, die ja auch nicht dabei waren, etwas damit zu tun haben sollen. Ein kleiner Riss im Gewebe droht somit wie immer das ganze Tuch zu zerreißen – zumindest wird klar, dass es ebenso von Menschen gewoben wurde wie das in Verruf geratene Turiner Grabtuch. Die Kollektivierung der Schuld ist, kurz gesagt, unmoralisch, wie die Religion hier und da auch schon hat einräumen müssen.
das ewige höllenfeuer und unerfüllbare aufgaben
Die Geschichte vom Garten Gethsemane hat mich als Kind sehr beschäftigt, weil für mich das »Aussetzen« der Handlung und das menschliche Ringen die Frage aufwarfen, ob an der fantastischen Geschichte vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit sein könnte. Im Grunde fragt Jesus ja: »Muss ich wirklich da durch?« Es ist eine eindrückliche Frage, und ich würde schon seit Längerem bereitwillig meine Seele darauf verwetten, dass die einzig richtige Antwort darauf »Nein« lautet. Wir können nicht wie die angsterfüllten Bauern der Vorzeit davon ausgehen, dass wir unsere Sünden einer Ziege aufladen und das arme Tier in die Wüste treiben können. Im Volksmund ist der Begriff des »Sündenbocks« vernünftigerweise negativ besetzt. In Religionen spielen Sündenböcke dagegen eine große Rolle. Ich zahle für deine Schulden und Dummheiten, mein Lieber, und wenn ich ein Held wäre wie Sydney Carton in Charles Dickens’ Roman Eine Geschichte zweier Städte, würde ich sogar deine Gefängnisstrafe für dich absitzen oder deinen Platz auf dem Schafott einnehmen. Niemand hat größere Liebe. Doch es kann uns auch niemand von Verantwortung freisprechen. Es wäre unmoralisch, dieses Angebot zu machen, und gleichermaßen unmoralisch, es anzunehmen. Und wenn es uns dann noch aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt erreicht, über Mittelsleute und mit allerlei Anreizen schmackhaft gemacht, ist von Großartigkeit nichts mehr zu spüren, und übrig bleibt nur noch Wunschdenken oder, schlimmer noch, ein Zusammenspiel aus Erpressung und Bestechung.
Wie diese Entwicklung schließlich zu einem bloßen Geschäft verkommt, wird unangenehm spürbar in Blaise Pascals Theologie, die haarscharf an der Unanständigkeit vorbeischrammt. Seine berühmte »Wette« klingt wie das Angebot eines Marktschreiers: Was hast du zu verlieren? Wenn du an Gott glaubst und es einen Gott gibt, gewinnst du. Wenn du an ihn glaubst und daneben liegst – was soll’s? Ich habe mir einmal eine Antwort auf diese abgefeimte Gaunerei ausgedacht, die zweierlei Form annahm. Die erste war eine Abwandlung von Bertrand Russells hypothetischer Antwort auf die hypothetische Frage, was er denn sagen würde, wenn er nach seinem Tod seinem Schöpfer gegenüberstünde? Seine Antwort: »Ich würde sagen, oh Gott, du hast uns nicht genügend Beweise gegeben.« Meine Antwort: »Unergründlicher Herr, einiges, wenn nicht alles, was dir nachgesagt wird, lässt mich vermuten, dass du aufrechten und überzeugten Unglauben der scheinheiligen und eigennützigen Heuchelei und flammenden Opfergaben auf blutigen Altären vorziehst.« Aber ich würde mich nicht darauf verlassen.
Pascal erinnert mich an die Heuchler und Schwindler, vor denen es in der talmudisch-jüdischen Rationalisierung nur so wimmelt: Verrichte am Sabbat keine Arbeit, sondern bezahle andere dafür. Du hast dem Buchstaben des Gesetzes Genüge getan – wer zählt mit? Der Dalai Lama erklärt, der Besuch einer Prostituierten sei erlaubt, wenn jemand anders bezahle. Schiitische Muslime haben die Ehe auf Zeit im Angebot: Männer erhalten gegen Geld die Erlaubnis, eine Frau mit den üblichen Schwüren für eine oder zwei Stunden zu heiraten und sich, wenn sie fertig sind, wieder scheiden zu lassen. Viele der herrlichen Bauten in Rom wären nie errichtet worden, wenn der Ablasshandel nicht so viel Gewinn abgeworfen hätte – der Petersdom wurde mit einer Art Ablass-Sonderangebot finanziert. Als der derzeitige Papst, ehemals Joseph Ratzinger, vor nicht allzu langer Zeit junge Katholiken zu einem Kirchentag einlud, versprach er den Teilnehmern den Ablass ihrer Sündenstrafen.
Dieses moralisch erbärmliche Spektakel wäre völlig überflüssig, wenn die Regeln so geartet wären, dass man sie auch befolgen kann. Doch zu den totalitären Edikten, die ihren Anfang in der Offenbarung durch eine absolute Autorität hatten, mittels Angstmache durchgesetzt werden und sich auf eine Sünde aus grauer Vorzeit beziehen, kommen Vorgaben, die zum Teil
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