Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Antrieb für wirtschaftliche Entwicklung. Alle, die sich mit dem Thema befasst haben, von David Ricardo über Karl Marx bis hin zu Adam Smith, waren sich dieser Tatsache bewusst. Es ist nicht der Mildtätigkeit des Bäckers zu verdanken, so beobachtet Smith in seiner treffsicheren schottischen Art, dass wir unser täglich Brot erhalten, sondern dem Eigeninteresse, aus dem er es backt und verkauft. Jedem steht es frei, altruistisch zu handeln, was immer darunter zu verstehen ist, doch man kann definitionsgemäß nicht zum Altruismus gezwungen werden. Vielleicht wären wir eine bessere Spezies, wenn wir anders »geschaffen« wären, doch die Vorstellung eines »Schöpfers«, der uns den Instinkt verbietet, den er uns mitgegeben hat, ist doch reichlich albern.
»Freier Wille«, entgegnet der Kasuist. Man muss ja auch das Verbot von Mord oder Diebstahl nicht beachten. Nun, obwohl wir genetisch wohl eine gewisse Dosis an Aggression, Hass und Gier mitbekommen haben, können wir in der Evolution trotzdem so weit gediehen sein, dass wir nicht jedem Impuls blind nachgeben. Wenn der Mensch jedem niederen Instinkt gefolgt wäre, hätte sich keine Zivilisation entwickelt, und es gäbe auch keine Schrift, mit der man diese Auseinandersetzung führen könnte. Es steht außer Frage, dass ein Mensch, egal, ob er steht oder liegt, die Hände in der Nähe seiner Genitalien hat. Unsere Vorfahren nahmen, um sich Angreifern besser erwehren zu können, das Risiko auf sich, sich aufzurichten und ihre Genitalien zu entblößen, was gleichermaßen ein Privileg und eine Provokation ist, die den meisten anderen Vierbeinern versagt blieb (einige von ihnen können diesen Mangel kompensieren, indem sie mit dem Mund an die Stelle gelangen, die wir mit den Fingern erreichen). Also: Wer schuf die Regel, nach der die nahe liegende Apposition des Manuellen und des Genitalen sogar gedanklich verboten ist? Klarer ausgedrückt: Wer hat befohlen, dass man berühren muss (aus Gründen, die nichts mit Sexualität oder Fortpflanzung zu tun haben), es aber auch nicht darf? Hier gelangen offenbar nicht einmal die heiligen Schriften zu einer klaren Aussage, und trotzdem haben fast alle Religionen ein nahezu absolutes Verbot erlassen.
Über die groteske Historie der Religion, der Sexualität und der heiligen Furcht vor dem Geschlechtsakt sowie allen damit in Zusammenhang stehenden Impulsen und Notwendigkeiten vom Samenerguss bis hin zur Menstruation könnte man ein eigenes Buch schreiben. Oder man packt die ganze faszinierende Geschichte in eine einzige provokative Frage.
Kapitel sechzehn:
Ist Religion Kindesmisshandlung?
Sag es mir selbst geradeheraus, ich rufe dich auf, antworte: Stell dir vor, du selbst hättest das Gebäude des Menschenschicksals auszuführen mit dem Endziel, die Menschen zu beglücken, ihnen Friede und Ruhe zu bringen; dabei wäre es jedoch zu eben diesem Zweck notwendig und unvermeidlich, sagen wir, nur ein einziges winziges Wesen zu quälen – beispielsweise jenes Kind, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug – und auf seine ungerächten Tränen dieses Gebäude zu gründen: Würdest du unter diesen Bedingungen der Baumeister dieses Gebäudes sein wollen? Das sage mir, und lüge nicht!
Iwan zu Aljoscha in Die Brüder Karamasow
Wenn wir abwägen, ob die Religion mehr geschadet als genützt hat – und das sagt noch gar nichts über Wahrheit oder Authentizität aus – führt uns das zu der schwierigen Frage, wie viele Kinder infolge der Zwangsindoktrination durch den Glauben psychisch und physisch irreparable Schäden davongetragen haben. Diese Zahl ist fast so schwer zu ermitteln wie die Zahl der »wahr« gewordenen spirituellen und religiösen Träume und Visionen, die man, um sie auch nur ansatzweise zu bewerten, denen gegenüberstellen müsste, die sich nicht bewahrheitet haben, wobei Letztere nicht belegt oder in Vergessenheit geraten sind. Fest steht dagegen, dass die Religion immer auf den noch ungeformten und schutzlosen Verstand junger Menschen Einfluss zu nehmen versucht und alles Erdenkliche getan hat, um sich dieses Privileg zu sichern, indem sie mit den säkularen Mächten der materiellen Welt Allianzen eingegangen ist.
Ein berühmter literarischer Fall von moralischem Terrorismus findet sich in der Predigt Vater Arnalls in James Joyce’ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Der widerwärtige alte Priester bereitet Stephen Dedalus und seine anderen jungen Schützlinge auf den Festtag zu Ehren des
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