Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
gleichermaßen unmoralisch wie unmöglich einzuhalten sind. Ein Grundprinzip des Totalitarismus ist der Erlass von Gesetzen, die nicht zu befolgen sind. Die Tyrannei, die daraus erwächst, ist noch eindrücklicher, wenn sie von einer privilegierten Kaste oder Partei ausgeübt wird, die mit Feuereifer die Aufdeckung von Verfehlungen betreibt. Ein Großteil der Menschheit hat im Verlauf ihrer Geschichte unter einer Form dieser stumpfsinnigen Diktatur gelebt, und viele tun es noch immer. Ich möchte ein paar Beispiele für Regeln nennen, die nicht befolgt werden können. Das am Sinai erlassene Gebot, nach dem der Mensch nicht einmal daran denken darf, anderer Leute Güter zu begehren, sei als erstes Beispiel genannt. Seinen Widerhall findet es im Neuen Testament, wo es heißt, ein Mann, der eine Frau falsch ansieht, begeht bereits Ehebruch. Und seine Entsprechung findet es in dem im Islam noch geltenden und im Christentum einst gültigen Verbot, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Solche Regeln unterwerfen die Willenskraft des Menschen auf unterschiedliche Weise unsinnigen Beschränkungen. Begegnen kann man ihnen nur auf zwei Arten. Die eine ist die ständige Geißelung des Fleisches, begleitet von einem unablässigen Ringen mit »unreinen« Gedanken, die wahrhaftig sind, sobald sie im Bewusstsein oder auch nur in der Fantasie auftauchen. Die Folge sind hysterische Schuldeingeständnisse, das heuchlerische Gelöbnis, sich zu bessern, und die aggressive Denunziation anderer Abtrünniger und Sünder, kurz: ein spiritueller Polizeistaat. Die zweite Reaktion ist die organisierte Scheinheiligkeit: Man gibt verbotene Nahrungsmittel für etwas anderes aus, verschafft sich mit einer Spende an die religiöse Obrigkeit ein wenig Freiraum, erkauft sich mit demonstrativer Orthodoxie Zeit oder zahlt Geld auf das eine Konto ein und lässt es sich auf einem anderen mit einem kleinen Aufschlag, ohne jede Wucherei natürlich, wieder auszahlen. So etwas könnten wir als spirituelle Bananenrepublik bezeichnen. Viele Theokratien, vom mittelalterlichen Rom bis hin zum modernen wahhabitischen Saudi-Arabien, haben es gleichzeitig zum spirituellen Polizeistaat und zur spirituellen Bananenrepublik geschafft.
Dieser Einwand erstreckt sich sogar auf einige der nobelsten und der grundlegendsten Regeln. Das Gebot, seinen Nächsten zu lieben, erinnert moderat, aber streng an die Verpflichtung des Einzelnen anderen gegenüber. Das Gebot, seinen Nächsten zu lieben »wie dich selbst«, ist aber, ebenso wie die schwer zu interpretierende Aufforderung, andere zu lieben, »wie ich euch geliebt habe«, so extrem und gewaltig, dass man sich gar nicht daran halten kann. Der Mensch ist nicht so geschaffen, dass er sich um andere sorgt wie um sich selbst. Das ist schlichtweg unmöglich, wie jeder intelligente Schöpfer aus dem Studium seiner eigenen Schöpfung wissen müsste. Wer den Menschen unter Androhung von Folter und Tod Übermenschliches abverlangt, zwingt sie angesichts ihrer unvermeidlichen und wiederholten Verstöße gegen die Regeln zu furchtbarer Selbsterniedrigung. Und wie sich diejenigen die Hände reiben, die die entsprechenden Spenden entgegennehmen dürfen! Die Goldene Regel – zuweilen überflüssigerweise dem babylonischen Rabbi Hillel zugeschrieben – besagt schlicht: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Das ist ein solider und vernünftiger Grundsatz, den man jedem Kind, dem das Gefühl für Fairness ja angeboren ist, beibringen kann und den es im Übrigen schon vor allen »Seligpreisungen« und Gleichnissen Jesu gab. Er ist von jedem Atheisten leicht zu begreifen und erfordert bei Zuwiderhandlung weder hysterischen Masochismus noch hysterischen Sadismus. Die menschliche Spezies erlernt diesen Grundsatz im Rahmen ihrer quälend langsamen Evolution und vergisst ihn auch nicht mehr, wenn sie ihn einmal angenommen hat. Ein durchschnittliches Gewissen ist dafür völlig ausreichend, ohne dass ständig der himmlische Zorn drohend über allem schweben müsste.
Was die grundlegendsten Regeln angeht, sollte man sich einfach noch einmal den teleologischen Gottesbeweis vornehmen. Die Menschen wollen sich bereichern und besser stellen. Einem Freund oder Verwandten in Not leihen oder schenken sie schon mal Geld und erwarten dafür nicht mehr als die Rückzahlung oder ein Dankeschön. Einem völlig Fremden dagegen geben sie sicher nur etwas auf Zins. Gier und Habsucht sind nun einmal, wie das Leben so spielt, der
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