Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Gedankenlosigkeit aufseiten des Gottes, der es doch »inspiriert« haben soll.
Vor sechzig Jahren wurden in Ägypten bei Nag Hammadi in der Nähe einer sehr alten koptisch-christlichen Ausgrabungsstätte weitgehend unbekannte »Evangelien« entdeckt. Die Schriften stammten aus der gleichen Zeit und waren der gleichen Herkunft wie viele der später kanonisierten und »autorisierten« Evangelien. Lange wurden sie als »gnostisch« bezeichnet, dem frühen Kirchenvater Irenäus folgend, der die Texte als häretisch eingestuft und verboten hatte. Unter diesen Schriften befinden sich die »Evangelien« oder Erzählungen durchaus bedeutsamer Nebenfiguren aus dem anerkannten »Neuen« Testament, unter anderem die des »ungläubigen Thomas« und der Maria Magdalena. Heute zählt man auch das Judasevangelium dazu, dessen Existenz zwar seit Jahrhunderten bekannt ist, das aber erst im Jahr 2006 von der National Geographic Society aufgespürt und veröffentlicht wurde.
Das Buch enthält, wie nicht anders zu erwarten, viel spiritualistisches Gefasel, aber eben auch eine Version der »Ereignisse«, die geringfügig glaubwürdiger ist als der offizielle Bericht. Zum einen wird wie in den anderen gnostischen Texten die Ansicht vertreten, dass man um den Gott des »Alten« Testaments einen weiten Bogen machen solle, weil er eine grauenhafte Erfindung kranker Gehirne sei – was mühelos erklärt, warum der Text so unnachgiebig verboten und angeprangert wurde. Immerhin ist das orthodoxe Christentum in erster Linie eine Bestätigung und Vervollkommnung jener bösartigen Geschichte. Judas nimmt, wie aus der Bibel bekannt, am letzten Passahmahl teil, weicht dann aber vom gewohnten Skript ab. Als Jesus seinen Jüngern mitleidig vorhält, dass sie einfach nicht begreifen wollen, was auf dem Spiele steht, sagt sein Tunichtgut von Apostel mutig, er wisse schon, worum es gehe: »Ich weiß, wer du bist und woher du gekommen bist. Du kommst aus dem ewigen Reich Barbelo.« [FUSSNOTE31]
Dieses »Barbelo« ist kein Gott, sondern ein himmlisches Ziel, ein Mutterland jenseits der Sterne. Jesus kommt aus diesem himmlischen Reich, ist aber nicht der Sohn des mosaischen Gottes, sondern ein Avatar des Seth, dritter und weniger bekannter Sohn des Adam, der den Sethitern den Weg nach Hause weisen sollte. Jesus, dem klar wird, dass Judas zumindest ansatzweise in diesen Kult eingeweiht ist, nimmt ihn zur Seite und beauftragt ihn mit einer Spezialaufgabe: Er soll ihm dabei helfen, seine fleischliche Hülle abzustreifen und in den Himmel zurückzukehren. Er verspricht ihm auch, ihm die Sterne zu zeigen, die Judas ermöglichen werden, ihm zu folgen.
Das klingt wie irre Science-Fiction, ist aber sehr viel schlüssiger als der ewige Fluch, der Judas aufgebürdet wurde, weil er getan hatte, was jemand tun musste in dieser ansonsten pedantischen Chronik eines angekündigten Todes. Es ist auch insofern erheblich schlüssiger, als die Schuld nicht bis in alle Ewigkeit den Juden aufgehalst wird. Lange tobte eine Debatte darüber, welches der »Evangelien« als von Gott inspiriert gelten müsse. Die einen sprachen sich für dieses aus, die anderen für jenes, und manch einer verlor dabei auf furchtbare Weise sein Leben. Niemand wagte es, darauf hinzuweisen, dass alle Texte lange nach dem geschilderten Drama von Menschen verfasst worden waren. Die »Offenbarung« des Johannes hat sich wohl nur dank des (recht gewöhnlichen) Namens seines Autors in den Kanon geschlichen. Um mit Jorge Luis Borges zu sprechen: Hätten die alexandrinischen Gnostiker das Rennen gemacht, so hätte uns ein Dante später ein berauschend schönes Sprachbild von den Wundern »Barbelos« gezeichnet. Diese Idee möchte ich »Borges Shale« nennen: Wie viel Ausdruckskraft und Fantasie sind nötig, um einen Querschnitt durch die Zweige und Sträucher der Evolution zu entwickeln, wobei immer die abwegige, aber reale Möglichkeit besteht, dass ein anderer Stamm oder eine andere Linie (ein anderes Lied oder ein anderes Gedicht) die Herrschaft in dem Labyrinth übernimmt. Man hätte, um Borges’ Gedanken weiterzuführen, bunte Deckenmalereien, hohe Kirchtürme und Hymnen geweiht, und geübte Folterknechte hätten tagelang jeden bearbeitet, der da zweifelte am wahrhaftigen Reich Barbelo, sich, ausgehend von den Fingernägeln, mit allen Mitteln ihrer Kunst zu Hoden, Vagina, Augen und Eingeweiden vorgearbeitet. Unglauben an Barbelo hätte entsprechend als unfehlbarer Beweis für den absoluten Mangel
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