Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
auffiel.
Dass der Verfasser diesen Bericht viele Jahre später aufschrieb, ist ziemlich eindeutig. Wir erfahren, dass Mose einhundertzehn Jahre alt wurde; seine »Augen waren nicht schwach geworden und seine Kraft war nicht verfallen«, als er den Berg Nebo bestieg, von dem aus er einen guten Blick über das Gelobte Land hatte, das er nie betreten sollte. Plötzlich schwinden die Kräfte des Propheten, er stirbt im Lande Moab und wird dort bestattet. Niemand weiß, sagt der Autor, »bis auf den heutigen Tag«, wo das Grab des Mose liegt. Auch habe es, so fügt er hinzu, »hinfort« keinen vergleichbaren Propheten in Israel mehr gegeben. Diese beiden Formulierungen ergeben nur dann einen Sinn, wenn sie sich auf das Verstreichen einer großen Zeitspanne beziehen. Weiter sollen wir glauben, dass ein nicht näher bestimmter »er« Mose begrub: Wenn das wieder Mose selbst in der dritten Person gewesen sein soll, so scheint es höchst unglaubwürdig, und wenn Gott höchstselbst die Trauerfeier gestaltete, so kann es der Verfasser des Deuteronomiums nicht gewusst haben. Der Autor hat überhaupt nur wenig Konkretes darüber zu berichten, was nicht anders zu erwarten ist, wenn er ein schon beinahe in Vergessenheit geratenes Ereignis rekonstruierte. Dasselbe gilt für unzählige weitere Anachronismen, wenn Mose Ereignisse schildert – den Verzehr des »Manna« in Kanaan, die Eroberung des gewaltigen Steinsarges des »Riesen«-Königs Og von Basan –, die womöglich nie stattfanden, von denen aber auch gar nicht erst behauptet wird, dass sie vor Moses Tod geschahen.
Immer wahrscheinlicher wird diese Interpretation im vierten und fünften Kapitel des 5. Buchs Mose, wo Mose seine Anhänger um sich schart und ihnen noch einmal die Gebote des Herrn verkündet – was erst einmal nicht weiter verwunderlich ist, denn der Pentateuch enthält bereits zwei voneinander abweichende Schöpfungsberichte, zwei Stammbäume Adams und zwei Schilderungen der Sintflut. In einem dieser beiden Kapitel spricht Mose sehr ausführlich über sich selbst, in dem anderen wird er in indirekter Rede zitiert. Im vierten Kapitel wird das Verbot, Götzenfiguren anzufertigen, dahin gehend ergänzt, dass sie keinem Menschen oder Tier »gleich« sein dürften. Im fünften Kapitel wird der Inhalt der beiden Steintafeln in etwa so wiederholt, wie er schon im 2. Buch Mose wiedergegeben wurde, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Dieses Mal vergisst der Verfasser, dass der Sabbattag heilig ist, weil Gott den Himmel und die Erde in sechs Tagen erschaffen und am siebten Tag geruht hat. Hier nun ist der Sabbat plötzlich heilig, weil Gott sein Volk aus dem Lande Ägypten geführt hat.
Kommen wir nun zu den Geschehnissen, die wahrscheinlich – und darüber können wir nur froh sein – nie stattgefunden haben. Im 5. Buch Mose gebietet Mose Eltern, ihre Kinder für Disziplinlosigkeit zu Tode steinigen zu lassen (was mindestens einem der Gebote zuwiderzulaufen scheint), und trifft eine Reihe von Aussagen, eine irrwitziger als die andere: »Es soll kein Zerstoßener noch Verschnittener in die Gemeinde des HERRN kommen.« Im 4. Buch Mose empört er sich nach einer Schlacht vor den Generälen darüber, dass sie so viele Zivilisten verschont haben:
So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.
Das ist sicher nicht die krasseste Aufforderung zum Völkermord, die im Alten Testament zu finden ist – israelische Rabbis diskutieren bis zum heutigen Tag darüber, ob die Aufforderung zur Vernichtung der Amalekiter ein verschlüsselter Befehl zur Beseitigung der Palästinenser ist. Doch die wollüstige Komponente macht allzu offensichtlich, welche Art von Belohnung einen plündernden Soldaten erwartete. Das finde ich jedenfalls, und das fand auch Thomas Paine, der mit seiner Schrift nicht die Religion widerlegen, sondern den Deismus gegen das Alte Testament in Schutz nehmen wollte. Hier handle es sich, so Paine, um die Anordnung, »die Knaben abzuschlachten, die Mütter zu massakrieren und die Töchter zu schänden«. Diese Bemerkung brachte ihm die verletzte Reaktion eines prominenten Kirchenmannes seiner Zeit ein, des Bischofs von Llandaff. Entrüstet entgegnete der walisische Bischof, aus dem Kontext gehe keineswegs klar hervor, dass die jungen Frauen unmoralischen Zwecken und nicht zum Beispiel unbezahlter Arbeit zugeführt werden
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