Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
will – ein grauenhaftes Schicksal, das er gelassen als »Erklärung des Vorsitzenden« klassifiziert. Die Doktrin seiner eigenen Sekte ist ausdrücklich antisemitisch, und der Film lastet die Schuld für die Kreuzigung unermüdlich den Juden an. Ungeachtet dieser Bigotterie, die von umsichtigeren Christen kritisiert wurde, nutzten viele »Mainstream«-Kirchen den Kassenerfolg von Die Passion Christi opportunistisch für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Sein filmischer Mischmasch – der sich in sadomasochistischer Homoerotik übt und einen unbegabten, angeblich in Island oder auch in Minnesota geborenen Hauptdarsteller präsentiert –, so behauptete Mr. Gibson auf einer ökumenischen Werbeveranstaltung, basiere auf »Augenzeugen«-Berichten. Ich fand es damals durchaus bemerkenswert, dass ein Multimillionen-Dollar-Kassenhit mit so einer groben Unwahrheit unterfüttert werden konnte, aber niemand kommentierte das. Die meisten jüdischen Vertreter schwiegen. Einige wollten dagegen das uralte Argument, das jahrhundertelang Osterpogrome gegen die »jüdischen Mörder Christi« entfacht hatte, endlich vom Tisch haben. Immerhin hatte der Vatikan den Vorwurf des »Gottesmordes« gegen das jüdische Volk erst zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg formal zurückgezogen. Und tatsächlich hatten sich Juden die Kreuzigung sogar zu eigen gemacht. Maimonides bezeichnete die Bestrafung des verabscheuungswürdigen Nazarener Ketzers als eine der größten Leistungen seiner jüdischen Vorfahren, er forderte, den Namen Jesu nur noch in Begleitung eines Fluchs auszusprechen, und verkündete, Jesus werde bestraft, indem er auf alle Ewigkeit in Exkrementen schmore. Was für einen guten Katholiken hätte Maimonides doch abgegeben!
Doch als er annahm, die vier Evangelien könnten als eine Art historischer Chronik betrachtet werden, verfiel er dem gleichen Irrtum wie die Christen. Die Autoren – deren Texte allesamt erst viele Jahrzehnte nach der Kreuzigung veröffentlicht wurden – können sich auf kaum einen wichtigen Punkt einigen. Matthäus und Lukas stimmen weder im Hinblick auf die Jungfrauengeburt noch auf den Stammbaum Jesu überein. Diametral entgegengesetzt schildern sie die »Flucht nach Ägypten«: Matthäus zufolge erschien Joseph im Traum ein Engel, der ihm zur sofortigen Flucht riet, wohingegen Lukas erzählt, dass alle drei in Bethlehem blieben, bis Marias »Reinigung nach dem Gesetz des Mose vollendet« war, also vierzig Tage, um dann über Jerusalem nach Nazareth zurückzukehren. Wenn übrigens die Flucht nach Ägypten, die den Säugling vor Herodes’ Kindermordkampagne in Sicherheit bringen sollte, auch nur ein Körnchen Wahrheit in sich trägt, so haben uns die Bildermacher aus Hollywood und viele christliche Ikonografen jedenfalls hinters Licht geführt: Es wäre alles andere als einfach gewesen, einen blonden blauäugigen Säugling zum Nildelta zu bringen, ohne größeres Aufsehen zu erregen.
Dem Lukasevangelium zufolge fiel die wundersame Geburt in das Jahr, in dem Kaiser Augustus eine Schätzung angeordnet hatte, und zwar zu der Zeit, da Herodes König von Judäa und Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Das ist die genaueste historische Datierung, die überhaupt ein biblischer Schreiber vornimmt. Doch Herodes starb vier Jahre »vor Christus«, und während seiner Regierungszeit hieß der Landpfleger von Syrien nicht Cyrenius. Bei römischen Historikern kommt die Volkszählung des Augustus nicht vor, wohingegen der jüdische Chronist Josephus eine Schätzung erwähnt, für die allerdings die Menschen nicht die mühevolle Reise zu ihrem Geburtsort auf sich nehmen mussten und die sechs Jahre nach Jesu Geburt stattgefunden haben soll. Es handelt sich somit recht offensichtlich um eine verfälschende Rekonstruktion mündlicher Überlieferungen, die beträchtliche Zeit nach den »Ereignissen« vorgenommen wurde. Die Schreiber können sich auch bei den mythischen Elementen nicht einigen: Bei der Bergpredigt, der Salbung Jesu, dem Verrat des Judas und der »Verleugnung« des Petrus weichen sie erheblich voneinander ab. Am verwunderlichsten ist, dass nicht einmal bei der Kreuzigung oder der Wiederauferstehung eine gemeinsame Linie gefunden wird. Die Interpretation, nach der alle vier Berichte göttliche Vollmacht haben, ist somit schlichtweg hinfällig. Das Buch, auf das sich wahrscheinlich alle vier stützen und das die Gelehrten spekulativ als »Q« bezeichnen, ist verloren gegangen, eine fahrlässige
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