Der Herr vom Rabengipfel
Hände.
»Ich dulde keine weitere Unterbrechung«, donnerte Erik. »Erzähle die Geschichte zuende!«
Sie schüttelte den Kopf.
Der riesige Sturla kam ihr zu Hilfe: »Laß sie, Herr. Ich mag diese Spannung. Sie regt meinen Geist an. Vielleicht erzählt sie uns morgen das Ende der Geschichte.«
Erik lehnte sich brummend zurück. Seine Hände umspannten die kunstvoll geschnitzten Armlehnen des Stuhles, der seit zweihundert Jahren in Familienbesitz war. Das Eichenholz war zwar von unzähligen Händen glatt wie gewaschener Stein geschliffen, doch die Bilder von Odin, Thor und Freya waren noch deutlich zu erkennen.
Sarla entließ die Sklaven, die Kinder wurden in ihre Schlafkammer gebracht, und die Männer wickelten sich in die Pelzdecken. Erik blieb sitzen und wartete, bis es still geworden war. Als er sich erheben wollte, trat Merrik an Laren heran, die neben dem Herdfeuer in ihren Pelz gehüllt lag, Taby lag in ihre Armbeuge geschmiegt. Merrik ging neben ihr in die Hocke.
Mit leiser Stimme, um Taby nicht zu wecken, flüsterte er: »Wie ich höre, bist du meine Bettgefährtin. Das ist vermutlich die einzige Ausrede, die dich vor der Lust meines Bruders rettet. Laß Taby bei Cleve und komm mit mir. Wir schlafen in meiner Kammer.«
Im schwachen Schein der sterbenden Glut blickte sie zu ihm hoch. »Wirst du mir wehtun?«
»Ich untersuche dein Bein und deinen Rücken und trage etwas Heilsalbe auf. Dann werden wir sehen.«
»Ich will nicht deine Bettgefährtin sein, Merrik. Mir ist nur nichts anderes eingefallen.«
»Ich weiß. Aber du hast es gesagt. Nun stehe zu deinem Wort. Sonst zerrt Erik dich im nächsten Augenblick mit sich. Nun? Was ist dir lieber?«
Sie wandte den Blick und fragte leise: »Wo ist Cleve?«
Merrik lächelte. »Ich hole ihn.«
Kapitel 10
Erik stand vor ihr, obwohl Merrik und seine Männer in der Nähe waren. »Leg das Kind weg und komm mit mir.«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich«, wandte Merrik ein und wandte sich an Cleve: »Nimm Taby zu dir. Seine Schwester schläft bei mir.«
Cleve hob das schlafende Kind hoch. Und Laren beobachtete die beiden Brüder.
»Ich will sie haben«, verlangte Erik gereizt.
»Sie ist meine Bettgefährtin und meine Sklavin, Erik. Wenn ich ihrer müde bin, mache ich dir möglicherweise einen guten Preis für sie. Komm, Laren.«
»Sie sagt, du willst sie nicht, weil sie ihre Monatsblutung hat. Und außerdem habe ich dich beobachtet, Merrik. Du hast sie nicht angerührt und sie auch kaum beachtet, seit du hier bist. Du kümmerst dich nur um das Kind.«
Merrik antwortete mit Bedacht: »Es stimmt, ich fasse sie in der Zeit ihrer Blutung nicht gerne an. Aber heute habe ich Lust auf sie. Und ich sehe sie deshalb nicht an, weil mir bei ihrem Anblick jedesmal die Lenden schwellen. Warum soll ich mich quälen? Heute nacht will ich sie. Sie ist meine Sklavin, nicht deine. Gute Nacht, Bruder. Sarla erwartet dich.«
»Verflucht, Merrik. Ich will sie nicht nur reiten. Ich will auch, daß sie mir erzählt, wie die Geschichte mit Grunlige dem Dänen weitergeht!«
Wäre ihr nicht so bang ums Herz gewesen, hätte Laren laut gelacht.
»Sie wird morgen abend weitererzählen, Erik.« Merrik streckte ihr die Hand entgegen, die sie ohne Scheu nahm und sich von ihm hochziehen ließ. Sie schmiegte sich an seine Brust, er lachte verlegen und streichelte ihr Haar. »Außerdem ist sie spindeldürr. Du würdest sie einmal ansehen und fortschicken. Und ihr Haar ist kurz und strubbelig. Deine Gemahlin und deine Nebenfrauen sind üppiger und haben schönere Haare als sie.«
Laren hörte Caylis verstohlenes Lachen und blickte aus den Augenwinkeln zu Sarla hinüber. Wie konnte Erik seine Ehefrau nur so bloßstellen? Wut stieg in ihr hoch. Doch bevor sie etwas sagen konnte, beugte Merrik sich über sie und küßte sie auf den Mund.
Der Schreck verschlug ihr die Sprache. Er lachte wieder, winkte seinem Bruder zu und hob sie in die Arme. Sie wagte kaum zu atmen, bis er sie auf das Kastenbett legte, das vor dem Tod der Eltern seinem Bruder gehört hatte.
Die Kammer war eng und dunkel. Merrik ging noch einmal hinaus und kam mit einer Öllampe wieder. Auf dem Bett lagen Wolldecken und darauf Otter- und Rentierfelle, die er den Lappen im Norden abgekauft hatte. Am Fuße des Bettes stand eine geschnitzte Truhe. Das war die ganze Einrichtung.
Merrik schlug das Fell am Eingang beiseite und horchte nach draußen. Keine Spur von Erik. Hoffentlich war er zu Sarla gegangen. Alles war
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