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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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für sich allein, und niemals mehr würde ein Mann sie berühren.

21
    In seinem Zimmer hatte Jacquemort eben seinerseits das Licht gelöscht. Fernab verebbte das leise Matratzengequietsche des Kindermädchens, das sich soeben rundum befriedigt schlafen legte. Einige Augenblicke lang blieb er bewegungslos auf dem Rücken liegen. Die Ereignisse der letzten Tage vollführten einen schwindelerregenden Tanz in ihm, und sein Herz schlug zum Zerspringen. Nach und nach entspannte er sich und glitt ins Unbewusste, wobei er seine müden Augenlider über den ob des ungewohnten Bildeinsturms von rauen Striemen durchfurchten Netzhäuten schloss.

Zweiter Teil

1
    Dienstag, 7. Mai
    Weit jenseits des Gartens, ein gutes Stück Wegs hinter dem zerklüfteten Kap, dem das Meer Tag und Nacht wie ein Rauschebart anhing, gab es einen hohen Felsbrocken von unregelmäßiger Pilzform, der sich fest und abweisend, vom Winde zugefeilt und nur von wilden Ziegen und Farnkraut bestanden, in die Höhe reckte. Vom Hause aus war er nicht zu sehen. Man nannte ihn Hömme de Terre als Gegenstück zu seinem Bruder, dem Hömme de Mer, der etwas weiter links genau gegenüber aus dem Wasser ragte. Der Hömme de Terre war leicht von drei Seiten zugänglich; wohingegen die Nordseite dem etwaigen Besteiger ein System von Fallen und schlechthin unüberwindbaren Hindernissen bot, von denen man sagte, sie seien von einem boshaften Corbusier ausgeheckt worden, was die Besteigung von dieser Seite aus zur Glückssache machte.
    Bisweilen kamen die Zöllner dorthin, um sich daran zu üben, und waren dann den ganzen Tag über bemüht, eingezwängt in ihre grünweiß gestreiften Baumwollsporthemden, ihrem Nachwuchs die Grundbegriffe des Bergsteigens einzupauken, ohne die der Schmuggel zu einer wahren Landplage werden würde.
    An jenem Tag jedoch stand der Hömme verlassen da. Ganz allein für Clémentine, die, am Felsen klebend, sich langsam höher arbeitete, ihre Griffe sorgfältig sichernd.
    An den vorangegangenen Tagen war es ein Kinderspiel gewesen, den Gipfel über die Ost-, West- und Südflanke zu erreichen. Heute aber würde sie ihr Bestes geben müssen. Nicht einen einzigen Griff, nichts unter den Händen als die Flanke des Hömme, den glatten und kompakten Granit.
    Sie befand sich bäuchlings an einer praktisch senkrecht abfallenden Steilwand. Drei Meter oberhalb von ihr würde ihr ein Vorsprung Halt gewähren. Dort erst würde die wahre Anstrengung beginnen: Denn der ganze obere Teil des Hömme war überhängend. Vorderhand jedoch galt es, die drei Meter zu schaffen.
    Die Spitzen ihrer geflochtenen Sommerschuhe, die sie in einen quer über die Steilwand sich hinziehenden Spalt gezwängt hatte, hielten sie über dem Abgrund. In dem Spalt angesammelte Erde gab dort kleinen Pflanzen Nahrung. Das ergab einen grünen Streifen auf dem grauen Granit und sah aus wie das Ehrenabzeichen um die Verdienste der Landwirtschaft auf dem Rockaufschlag eines Dorfschullehrers.
    Clémentine atmete langsam und tief durch. Höherkommen, wie eine Fliege an der Wand entlang. Drei Meter. Nur noch drei Meter. Weniger als zweimal ihre Körpergröße.
    Aus der Nähe betrachtet, gab es da tatsächlich einige Unebenheiten. Es ging nur darum, aus möglichst geringer Entfernung hinzusehen, um sie zu entdecken; jedoch auch wieder nicht aus zu geringer Entfernung, um sich nicht unweigerlich bewusst zu werden, dass das mitnichten hinreichen würde, einen vor dem Absturz zu bewahren.
    Sie hakte ihre Hände an zweien dieser unsicheren Vorsprünge ein und beeilte sich.
    Durch den trockenen Stoff der Hose, die sie trug, streichelte ihr der Fels die Knie. Ihre Füße hoben sich dreißig Zentimeter über den grünen Streifen.
    Sie atmete, schaute und begann von vorne. Zehn Minuten später gelang es ihr, wieder auf dem Felsband Halt zu gewinnen, das die Vorstufe zur letzten Etappe bildete. Ihre Stirn war feucht, und die feinen Schläfenhaare schweißverklebt. Sie roch den vegetabilischen Schweißdunst, der von ihr selbst aufstieg.
    Sie konnte sich kaum rühren, weil sie nur wenig Platz hatte. Bei Drehung des Kopfes sah sie unter einem ungewohnten Blickwinkel den Hömme de Mer in seinem Schaumgürtel dastehen. Die Sonne stand mittlerweile schon beinah im Zenit und ließ Wolken von Flitter um die zerklüfteten Klippen der Küste aufstieben.
    Der Hömme de Terre über ihr lief wie eine Rinne, etwa nach Art eines aufrechtstehenden, zu drei Vierteln geschlossenen Buches zusammen und war überdies nach

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