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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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bloß damit auf«, spottete Angel, »die machen einen ja verrückt, alle wie sie da sind.«
    »Das stimmt zwar, aber interessant ist es doch. Auf jeden Fall ... ja ... nun gut! ... Es ist zumindest verwunderlich: die Schneiderin hat die Modelle von allen Kleidern Ihrer Frau. Von allen jedenfalls, die ich an ihr gesehen habe.«
    »Ach ja?«, sagte Angel wenig beeindruckt.
    Er sah das Boot an.
    »Ich werde jetzt langsam wegfahren müssen«, sagte er. »Wollen Sie mit mir zusammen eine Probefahrt machen?«
    »Sie werden doch wohl nicht einfach so wegfahren wollen ...«, sagte Jacquemort erschrocken.
    »Doch. Zwar nicht heute, aber wegfahren werde ich ganz einfach so.«
    Er trat an den Bremsbalken, den er zur Hälfte angesägt hatte und holte mit dem Arm aus. Mit einem gezielten Fausthieb schlug er das Stück Holz entzwei. Ein lautes Knirschen. Das Boot erbebte und setzte sich in Bewegung. Die mit Talg eingeschmierten Eichenschienen führten quer durch den Garten abwärts und dann beinah senkrecht zum Meer hinunter. Wie ein Pfeil flitzte das Boot davon und schoss, in einer stinkenden Rauchwolke von verbranntem Talg verschwunden, außerhalb des Blickfeldes ins Wasser.
    »Jetzt müsste es soweit sein«, sagte Angel nach zwanzig Sekunden. »Kommen Sie, machen wir eine kleine Rundfahrt. Wir wollen sehen, ob es auch schwimmt.«
    »Sie sind wohl nicht recht bei Trost«, sagte Jacquemort. »Ein solches Ding von so hoch oben runterschmeißen!«
    »Das haut schon hin«, versicherte Angel ...», je höher, desto schöner ist es.«
    Sie stiegen, allerdings weniger schnell als das Boot, den Steilhang hinunter. Es war herrliches Wetter, und der Steilhang wimmelte von Pflanzengerüchen und summenden Insekten. Angel hatte Jacquemort freundschaftlich den Arm um die Schulter gelegt. Der Psychiater schwankte in seinen Gefühlen. Er mochte Angel gut leiden, und er hatte Angst.
    »Werden Sie auch vorsichtig sein?«, sagte er.
    »Natürlich.«
    »Haben Sie auch Proviant dabei?«
    »Ich habe Wasser und Angelschnüre.«
    »Sonst nichts?«
    »Ich werde Fische fangen. Das Meer hat für alles vorgesorgt.«
    »Ah! Sie haben ihn also doch, diesen Komplex«, platzte Jacquemort heraus.
    »Kommen Sie mir nicht wieder mit diesen abgeschmackten Plattheiten«, sagte Angel, »ich weiß, die Rückkehr zur Urmutter, dem Meer, immer die gleiche alte Leier. Gehen Sie doch hin und psychoanalysieren Sie Ihre Dorftrottel. Von Müttern hab ich die Schnauze voll.«
    »Weil Sie mit dieser Frau da verheiratet sind«, sagte Jacquemort. »Aber bei ihrer eigenen Mutter ist das ja wohl etwas anderes.«
    »Nein. Außerdem habe ich gar keine Mutter.«
    Sie blieben am Rande des Abgrundes stehen, und Angel beschritt als erster ein schmales abwärtsführendes Felsband. Zu ihren Füßen kam das Boot in Sicht. Jacquemort sah, dass die Schienen sich — nach beinahe lotrechtem Fall — wieder annähernd horizontal richteten, bevor sie mit dem Wasser in Berührung kamen. In Anbetracht seiner Ankunftsgeschwindigkeit hätte sich das Boot mindestens dreihundert Meter vom Ufer entfernt befinden müssen. Er machte Angel darauf aufmerksam.
    »Ich hatte da natürlich ein Rückholkabel angebracht«, sagte Angel.
    »Gut gemacht«, lobte Jacquemort, ohne begriffen zu haben.
    Unter ihren Schritten bevölkerte sich der Kiesstrand mit Echos. Behend ergriff Angel das Ende eines dünnen und geschmeidigen Taus. Langsam näherte sich das Boot dem Ufer.
    »Steigen Sie ein«, sagte Angel.
    Jacquemort gehorchte. Das Boot schwankte. War man erst einmal an Bord, erschien es einem größer. Angel sprang nun seinerseits auf und verschwand nach unten in die Kajüte.
    »Ich lasse das Schwert runter«, sagte er, »und dann geht’s los.«
    »Aber doch nicht im Ernst, oder?«, fragte Jacquemort erschrocken.
    Angels Kopf tauchte wieder auf.
    »Haben Sie keine Angst«, sagte er lächelnd. »Ich bin noch nicht ganz fertig. Frühestens in einer Woche. Heute wird nur eine Probefahrt gemacht.«

14
    27. Junili
    So viele Male war Jacquemort nun schon den Weg ins Dorf gegangen, dass er ihm trostlos vorkam wie der Flur eines Nachtasyls und kahl wie ein geschorener Bärtiger. Ein einfacher Fußsteig ist ein Weg wie ein Strich, eine Linie ohne Breitenausdehnung und existiert also so gut wie gar nicht. Auch kürzer war der Weg geworden: bekannte Fußtapfen, schon zurückgelegte Schritte (Wanderschritte — nicht Negationsschritte). In Unordnung bringen musste er sie, umkrempeln, — nein, selbst das reichte noch nicht

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