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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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— besser: Mit begriffsspaltenden und sinnzersetzenden Parasiten durchseuchen musste er seine einschichtig-tumben Gedankenläufe, um die Strecke ohne Langeweile zurücklegen zu können. Und trotzdem brachte er sie immer wieder hinter sich. Mitunter sang er wohl auch:
    Kanonen stehn in Reu und Lied
    Wir singen uns ein Abschiedsglied
    Und alle Kerzen flennen
    Der Schanker weicht
    Der Sänger feucht
    Die Kammer räucht beim Brennen.
    Und alle bekannten, gerade entstehenden und künftigen Lieder; armer Jacquemort, was war er doch für ein dummer Tropf, aber was machte das schon, er selbst sah sich ja nicht. Er kam also ins Dorf, weil das weiter oben schon erwähnt ist, und die schwere dumpfe Käseglocke dieses Dorfes senkte sich herab und stülpte sich über ihn, und da stand er auch schon vor der Wohnung der Gemischtwarenhändlerin (wie er dachte), die aber in Wirklichkeit eine renommierte und verdienstvolle Damenschneiderin war, und er machte:
    »Tock!« (Zweimal)
    »Herein!«
    Jacquemort trat ein. Drinnen war es dunkel wie in allen Häusern des Dorfes. Blank geputzte Gegenstände schimmerten im Hintergrund. Der abgenutzte mattrote Plattenfußboden war übersät mit Nähgarnresten, Stoffstücken, mit Tausendkorn für Hühner, Hundertkorn für Hähne und Zehnkorn für Liebhaber.
    Die alte Schneiderin war alt und nähte ein Kleid.
    »Sieh einer an«, sagte sich Jacquemort.
    »Sie arbeiten für Clémentine?«, fragte er, um die Sache endlich vom Herzen zu haben; denn es genügt, Fragen zu stellen, wenn man ein reines Herz haben will; das Herz ist nämlich ein gut geschütztes und leicht zu unterhaltendes Organ.
    »Nein«, sagte sie.
    In diesem Augenblick bemerkte Jacquemort den Hufschmied.
    »Guten Tag«, sagte er freundlich.
    Der Hufschmied kam aus seinem Winkel heraus. Er wirkte immer noch furchterregend, aber noch mehr im Dunkeln, denn da war der Eindruck undeutlich und verwischt und vergrößerte sich dadurch noch.
    »Was wollen Sie hier?«, fragte er.
    »Ich komme, um Madame zu besuchen.«
    »Sie haben hier nichts verloren«, befand der Hufschmied.
    »Ich möchte wissen, wie sich das alles hier zusammenreimt«, fragte Jacquemort. »Diese Kleider hier sind die gleichen wie die von Clémentine, und das gibt mir zu denken.«
    »Da haben Sie sich aber umsonst bemüht«, sagte der Hufschmied. »Das sind keine patentierten Kleider, jeder kann sie nachmachen.«
    »Man kopiert aber nicht alle Kleider einfach so«, sagte Jacquemort streng. »Das gehört sich nicht.«
    »Nur keine losen Reden«, sagte der Hufschmied.
    Er hatte wahrhaftig sehr starke Arme. Jacquemort kratzte sich am Kinn, sah zur bauchigen Decke hoch, die mit klebrigen Fliegenfängern voll toter Fliegen verziert war.
    »Also, kurz und gut«, sagte Jacquemort, »sie wird es auch weiterhin tun?«
    »Ich gebe sie in Auftrag«, sagte der Hufschmied mit flacher und gefährlicher Stimme. »Und ich bezahle sie auch.«
    »Ach wirklich?«, sagte Jacquemort weltmännisch. »Für Ihre reizende kleine junge Frau, nehme ich an?«
    »Hab keine.«
    »Hm ... äh ...«, fing Jacquemort wieder an. »Doch verraten Sie mir eines«, sagte er, indem er sich anders besann, »nach welchen Modellen kopiert sie sie eigentlich?«
    »Sie kopiert sie nicht«, sagte der Hufschmied, »sie sieht sie. Sie macht sie aus dem Kopf.«
    »Oh! Oh!« spöttelte Jacquemort. »Da binden Sie mir ja einen ordentlichen Bären auf!«
    »Ich binde niemandem einen Bären auf«, hufte der Schmied.
    In diesem Augenblick stellte Jacquemort fest, dass die alte Schneiderin wirklich falsche Augen auf ihre geschlossenen Lider gemalt hatte. Der Schmied verfolgte seinen Blick.
    »Die aufgemalten Augen sind dazu da, dass man von der Straße aus nichts merkt«, sagte er. »Wenn Sie nicht hereingekommen wären, hätten Sie nichts gemerkt.«
    »Aber ich habe doch geklopft«, sagte Jacquemort.
    »Gewiss«, entgegnete der Hufschmied, »aber da sie nichts sieht, hat sie einfach ›herein!‹ gesagt, ohne sich darüber im klaren zu sein, dass Sie es waren.«
    »Aber sie hat immerhin ›herein!‹ gesagt.«
    »Na und«, sagte der Hufschmied, »sie ist halt gut erzogen, die alte Schlampe.«
    Die Schneiderin nähte gerade an einem Schmuckfaltenmuster an der Taille des Kleides, eines schönen Einteiligen aus weißem Pikee, wie es Clémentine am Vortage getragen hatte.
    »Sie arbeitet also wirklich mit geschlossenen Augen?« beharrte Jacquemort erstaunt und im Behauptungston fragend, wie um sich selbst zu überzeugen.
    »Es

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