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Der Herzausreißer

Der Herzausreißer

Titel: Der Herzausreißer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Vian
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das heißt, wie zu einem Begräbnis angezogen. Die Lehrlinge blieben zu Hause. Damit sie das nicht allzu schwer ankam, bearbeitete man sie an solchen Vorstellungstagen derart mit Fußtritten, dass sie sich glücklich schätzten, den ganzen Nachmittag über allein zu Hause bleiben zu dürfen.
    Jacquemort kannte nunmehr jeden Winkel, jeden Umweg und jede Abkürzung. Er überquerte den großen Platz, auf dem nach wie vor der Alteleutemarkt abgehalten wurde, ging am Schulhaus entlang; wenige Minuten später bog er um die Kirche, um sich beim Schalter, an dem einer der Chorknaben des Pfarrers saß, eine Eintrittskarte zu kaufen. Er nahm einen teuren Platz, um gute Sicht zu haben. Dann betrat er die Remise. Einige Personen saßen bereits darin, andere kamen nach ihm. Am Tor der Remise riss ein zweiter Chorknabe die Hälfte seines Billetts ab oder, genauer gesagt, zerriss das ganze Billett in zwei Hälften, wovon er ihm eine zurückgab. Ein dritter Chorknabe wies gerade einer Familie die Sitzplätze an, und Jacquemort wartete darauf, dass er sich seiner annähme, was auch sogleich geschah. Die drei Chorknaben trugen ihre Festtracht, roten Rock, Käppchen und Weißzeug aus reiner Spitze. Der letzte nahm Jacquemorts Billett und geleitete den Psychiater bis zu den Orchesterfauteuils. Der Pfarrer hatte alles, was in der Kirche an Stühlen vorhanden war, in die Remise gepfercht; es waren dermaßen viele Stühle, dass es an manchen Stellen nichts als Stühle gab, die einen auf den anderen, so dass man sich überhaupt nicht hinsetzen konnte; aber um so mehr Karten würde man verkaufen können.
    Jacquemort setzte sich auf seinen Platz und gab dem Chorknaben, der sich ein Trinkgeld zu erhoffen schien, widerwillig eine Ohrfeige; er ging, ohne Weiteres abzuwarten. Dieses Weitere hätte zweifellos in ein paar ordentlichen Püffen bestanden; es war natürlich, dass sich Jacquemort nicht in aller Öffentlichkeit gegen die Landessitten auflehnte, trotz des Ekels, den er solchen Praktiken gegenüber immer empfand. Verlegen und missmutig beobachtete er die Vorbereitungen zum Spektakel.
    In der Mitte der Remise, zu allen vier Seiten von Kirchenstühlen umringt, war ein Boxring mit allen Schikanen aufgebaut; er wurde von vier geschnitzten und durch starke Metallzüge verankerten Pfosten gebildet, zwischen die man purpurrote Samtkordeln gespannt hatte. Auf zwei gegenüberliegenden Pfosten waren lediglich ein paar vertraute Szenen aus dem Leben Jesu dargestellt: Jesus, wie er sich am Wegrand die Füße kratzt, Jesus, wie er einen Liter Roten aussäuft, Jesus beim Angeln, kurz: eine Zusammenfassung der klassischen sulpizianischen Bildwelt. Die beiden anderen Pfosten hingegen waren viel origineller. Der linke, der Jacquemort an nächsten stand, sah einem großen Dreizack ähnlich, mit den Spitzen nach oben weisend und über und über mit höllischen Schnitzmotiven verziert, von denen einige geeignet schienen, einen Dominikaner zum Erröten zu bringen. Oder gleich mehrere Dominikaner. Oder sogar den Chef der Jesuiten. Der letzte Pfosten, in Form eines Kreuzes, zeigte auf die nichtswürdigste Weise des Pfarrers Ebenbild, nackt und von hinten, wie er gerade einen Kragenknopf unterm Bett sucht.
    Pausenlos strömten Leute herein, und der Lärm der hin- und hergerückten Stühle, die Flüche derer, die keinen Platz fanden, weil sie sich zu knausrig gezeigt hatten, die schrillen Schreie der Chorknaben, der strenge Geruch der Füße im Verein mit dem Geächze irgendwelcher auf dem Markt erstandener Greise, die man hierhergeschleppt hatte, um sie während der Pausen zwicken zu können, das alles gab die seichte Atmosphäre einer Sonntagsvorstellung ab. Plötzlich hörte man ein gewaltiges Kratzgeräusch, wie von einer schlecht aufgelegten Schallplatte, und eine donnernde Stimme drang aus einem Lautsprecher, den Jacquemort, hochblickend, direkt oberhalb des Rings an einem Balken befestigt sah. Schon nach wenigen Sekunden erkannte er die Stimme des Pfarrers; trotz der schlechten Tonqualität konnte man dem Faden seiner Rede folgen.
    »So geht das nicht!«, brüllte er zur Einleitung.
    »Ah! Ah! Ah!« schrie die Menge, von der Abwechslung entzückt.
    »Aus schmierigem Geiz und unwürdiger Knickerigkeit haben einige unter euch die Lehren der Heiligen Schrift in den Schmutz ziehen wollen. Sie haben schlechte Plätze gekauft. Dafür werden sie sich nicht hinsetzen dürfen! Dies hier ist eine Luxusvorstellung im Zeichen GOttes, eines Luxuswesens, und wer sich

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