Der Herzberuehrer
nachdenken und auch darüber, wie vertraut all das inzwischen für mich war.
Es war feucht-kühl an diesem Tag, und es roch nach Regen. Das konnte ich mittlerweile ganz gut einschätzen. Es war dann immer ein wenig so, als hielt die Natur den Atem an, um endlich, wenn der Niederschlag schließlich einsetzte, jeden Quent Feuchtigkeit in sich aufnehmen zu können.
Das, was dann im Anschluss an Düften und Aromen freigesetzt wird, übertrifft alles an Intensität, was ich jemals zuvor erlebt habe. Wie ein ewiger hochkonzentrierter Frühling, nur viel, viel würziger, holziger, berauschender.
»Guten Morgen...!«
Ich wand mich um und erblickte einen kompakten, haarlosen Dicken, der im marineblauen Bademantel auf mich zusteuerte, dabei fröhlich mit einem Handtuch wedelnd. Es war der aus Zimmer vier: Ehepaar, eine Woche Halbpension. Sie - kein Fisch, Wanderurlaub. Ich nickte ihm zu und hob zur Begrüßung meinen Becher.
»Früher Vogel fängt den Wurm...«, ließ er mich wissen. »Einer der Köche, ja?«
»Stimmt...«
»Einwandfrei bisher«, lobte er bereitwillig, was mich irgendwie freute. »Bist aber früh auf. Wohnst hier wohl?«
Ich hatte mich daran gewöhnt, nach wie vor für 18 oder 19 gehalten zu werden.
»Ja, stimmt!«
»Muss schön sein, hier auf Dauer leben zu können. Die Natur, diese Ruhe hier...« Er zeichnete mit seiner kleinen, fleischigen Hand einen breiten Bogen über das Tal. »Heute soll’s über den Südhang gehen. Ordentliche Steigung. Sechs Stunden...«
»Da würd ich von abraten. Es wird Regen geben. Vielleicht auch ein Unwetter.«
»Ach...« Der Dicke sah skeptisch in den Himmel und dann besorgt zu mir. »...Ist das sicher?«
»Denke schon. Aber wenn sie sich für einen Ausflug an die Küste entscheiden, bekommen sie davon nichts mit. Dort ist es auch sehr schön. Und sonnig.«
Er dankte mir für meinen Rat, verweilte noch einen Moment, verunsichert durch die neuen Informationen, trottete aber schließlich Richtung Haus zurück.
Ich sah ihm nach, trank einen Schluck und strich mir mein nasses Haar aus der Stirn, das nach der heißen Dusche hier draußen sofort auszukühlen begann.
Die Natur, die Ruhe - Nummer Vier hatte recht. Es war schon ein besonderer Ort, ein guter, intensiver. Und ich empfand es nach wie vor als Privileg, hier leben zu dürfen.
Es hatte sich aber auch wirklich alles sehr gut ineinander gefügt. Besser als ich es zu Beginn für möglich gehalten hätte
Beispielsweise die Zusammenarbeit mit Chip. Sie hatte von Beginn an funktioniert.
Ihre Befürchtung, die Rolle als Maître in meiner Küche vielleicht nicht ausfüllen zu können, entpuppte sich als unbegründet. Das lag unter anderem daran, dass ich mit zwei Maßnahmen dagegen steuerte. Zum einen überließ ich ihr ganz allein die Entscheidung für die Auswahl des restlichen Küchenpersonals. Zum zweiten zog ich mich die ersten sechs Wochen komplett zurück. Ich arbeitete, wenn überhaupt, dann nur im Hintergrund und keinesfalls in Bereichen, die die Küche berührten.
» Spinner...« , titulierte mich mein Freund Jack, als ich ihm am Telefon meine Entscheidungen mitteilte. »... Und morgen bringst du ihr das Frühstück ans Bett?«
»Du verstehst das nicht. Sie muss Vertrauen zu mir fassen. Darum geht es.«
»Du bezahlst sie für das, was sie tut?«
»Natürlich.«
» Fristgerecht?«
»Ja natürlich. Wieso...?«
»Das, mein Herz, ist unter anderem ein Vertrauensbeweis. Vertragserfüllung nennt man das auch. Sie liefert, Schnuckiputzi zahlt. Soo macht man das in der freien Wirtschaft, Capice?«
Es hatte keinen Sinn mit ihm zu streiten. Ich kannte das zu genüge. Aber sein Rat war mir wichtig, und nachdenklich stimmte er mich schon. Doch meine Vorgehensweise erschien für mich als der einzig gangbare Weg. Nur in dem ich von Beginn an Vertrauen aufbaute, konnte ich auch damit rechnen, dass sie mir selbst welches entgegenbringen würde.
Und tatsächlich: Obwohl ich Chip nun wirklich kaum kannte, hatte ich mich nicht in ihr getäuscht.
Die vierköpfige Küchencrew, für die sie sich entschieden hatte, zum Beispiel: Sie passte.
Da waren Sandra und Orlando, ein Paar um die fünfzig. Die beiden waren ihr als ein erfahrenes, eingespieltes Team empfohlen worden. Sie stammten aus dem benachbarten Casella, wo sie jahrzehntelang in einem schön gelegenen Landgasthof gekocht hatten. Die Locanda wurde jedoch urplötzlich vom Vater an den Sohn abgetreten. Die Folge: Kündigung aus Altersgründen! Sandra und
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