Der Hexenschwur: Roman (German Edition)
Kälte krochen durch ihre Kleidung, und schon bald verwandelte sich der Boden unter ihrem Schuhwerk zu braunem Matsch, der an ihren Beinen emporspritzte. Zitternd zogen die Leute ihre Schultern in die Höhe, während die Kinder vor Kälte jammerten.
Der Regen lief Johann in den Kragen, und er drückte sich den Hut tiefer ins Gesicht. Während der Grabrede des Pfarrers schweifte sein Blick über die Trauergesellschaft. Es freute ihn, dass die Wellinger trotz des schlechten Wetters in großer Zahl gekommen waren, um der alten Rehmringer die letzte Ehre zu erweisen. Auch weil sie wissen, dass sie anschließend ein warmes Essen erwartet, dachte Johann ohne Groll, denn die wenigsten konnten sich ein Stück Fleisch leisten, und so kam solch ein Leichenschmaus gerade recht. Zwar waren auch auf dem Rehmringer-Gestüt schwerere Zeiten angebrochen, doch hungern musste niemand.
Der Krieg war für das Gestüt ein Segen gewesen. Dank der kräftigen Pferderasse, die bereits Reginas Sohn Melchior gezüchtet hatte, wurde der Verkauf von Schlachtrössern ein einträgliches Geschäft. Da der Krieg jedoch unerwartet lange andauerte, kamen Clemens und Johann, die den Rehmringer-Hof übernommen hatten, mit dem Züchten nicht mehr nach. Zwar waren beide geschäftstüchtig und hatten Rücklagen gebildet, sodass sie lange keine Not leiden mussten. Auch hielten sie das Geld zusammen und gaben kaum etwas aus, was mittlerweile sichtbar wurde. Eines der Scheunendächer zerfiel, und manches Werkzeug war unbrauchbar geworden. Aber das waren für Clemens und Johann Nebensächlichkeiten. Wichtig war ihnen, dass die Menschen auf dem Gestüt nicht hungern mussten und dass man durchhielt, bis der Krieg im Reich endlich vorbei sein würde.
Johann erblickte die alte Kräuterfrau des Dorfes in der Menge der Trauernden. Sie hatte aus Tannenzweigen einen Kranz geflochten, der mit getrockneten Kräutern geschmückt war. Der Tod ihrer Gönnerin war ein großer Verlust für die Kräuterfrau, denn Regina Rehmringer hatte manchmal Johanns Sohn Benjamin mit Brot oder Speck zu der Alten geschickt, die niemanden hatte, der sie versorgte. Johann konnte sich vorstellen, wie viel Mühe es der Frau bereitet hatte, den Kranz mit den durch die Gicht verkrüppelten Händen aus den stachligen Zweigen zu formen. Es war ihre Art, Regina danke zu sagen. Später würde Johann den Kranz auf das Grab legen, denn erst im Frühjahr sollte ein Kreuz mit dem Namen der Verstorbenen aufgestellt werden.
Als Benjamin leise aufschluchzte, schaute Johann seinen kleinen Sohn an. Der Junge hielt die Hand seiner Schwester Magdalena fest umklammert und weinte, während er sein Gesicht an sie presste. Der Tod der alten Frau war ein großer Verlust für Johanns Kinder. Regina hatte versucht, ihnen die fehlende Wärme und Zuneigung zu geben, die ihnen ihre Mutter versagte. Zum Glück war heute Maria an ihrer Seite. Gekleidet in ihre schwarze Tracht, strahlte die junge Äbtissin Stärke aus, doch Johann konnte an dem leichten Zucken ihres rechten Auges erkennen, wie angespannt sie war.
Er schaute zu seinem Freund Clemens, der seit ihrer Ankunft in Wellingen für die alte Rehmringer ein treuer Berater gewesen war. Dank seines Wissens über Pferdezucht war das Gestüt auch nach dem Tod Melchiors weit über die Grenzen Westrichs hinaus bekannt geblieben. Nun stand Clemens da, kreidebleich und hilflos wie alle anderen. Seine schwangere Frau Christel hatte sich bei ihrem Mann eingehakt und tupfte sich fortwährend mit einem Tuch die Tränen fort. Ihr Sohn Georg hatte den Kopf gegen ihre Seite gelehnt und schluchzte in den Stoff ihres Umhangs. Alle Menschen auf dem kleinen Friedhof schienen zu trauern, nur Franziska stand allein und abseits da und starrte mit ausdruckslosem Gesicht in das offene Grab.
Johann wäre gern zu ihr gegangen und hätte sie umarmt, ihr gezeigt, dass sie nicht alleine war. Aber er wusste, dass sie ihn von sich stoßen würde, und so blieb er stehen.
Als der Pfarrer aus dem Johannes-Evangelium laut das Kapitel 16 und daraus den Vers 22 vorlas, wurde Johanns Aufmerksamkeit auf diese Zeilen gelenkt.
»Ihr seid jetzt traurig, aber ich werde euch wiedersehen. Dann wird euer Herz sich freuen, und eure Freude wird euch niemand nehmen.«
Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass er zwar trauerte, aber keine traurigen Gefühle verspürte. Waren seine Empfindungen schon verkümmert?
Die Trauergäste wiederholten im Chor die Worte des Gebets, die der Pfarrer ihnen nun
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