Der Hexenschwur: Roman (German Edition)
lebte, und sogleich legte sich eine Zornesfalte zwischen ihre Augenbrauen. »Der Wechselbalg bringt mich um den Verstand«, zischte sie leise. Mit beiden Händen umfasste sie den Becher und starrte in das dunkle Gebräu.
Seit fast fünf Jahren war Karolines Leben mit dem Schicksal des Dämonenkindes verwoben. Jeden Tag aufs Neue erinnerte es sie an ihren verschwundenen Sohn. »Wie habe ich mir ein Kind gewünscht«, murmelte Karoline und kniff die Augen zusammen, da ihr Herz wieder heftig zu schlagen begann. Sie trank von dem Baldriansud und hoffte, dass er sie beruhigen würde. Erneut schloss sie die Lider und sah in der Erinnerung ihren kleinen Sohn vor sich, wie er sie mit seinen blauen Augen anlächelte. Seine hellen Locken kringelten sich engelsgleich dicht um sein Köpfchen. »Mein kleiner Sonnenschein«, murmelte Karoline mit erstickender Stimme, denn in Gedanken hörte sie wieder das entsetzliche Wimmern des Wechselbalgs im Kellerverlies, das zu einem Gebrüll anschwoll. »Wäre ich damals bei meinem Kind geblieben, hätten die Dämonen es nicht mitnehmen können«, schluchzte Karoline und schlug die Hände vors Gesicht.
In ihren Gedanken liefen erneut die Bilder ab, wie vor Jahren das Unglück geschehen war. Als sie damals ungewöhnliche Laute aus dem Schlafzimmer gehört hatte, war sie die Treppenstufen hinaufgestürmt. Bereits an der Tür zur Schlafstube ahnte sie Schlimmes und wagte kaum, die Kammer zu betreten. Schwer atmend war sie zur Wiege gegangen. Was sie sah, verschlug ihr die Sprache. Unfähig, einen Ton von sich zu geben, hatte sie in das Bettchen gestarrt, in dem ein hässliches Wesen lag, dessen Gliedmaßen verkrümmt schienen. Es sabberte, grunzte und wimmerte. Aus einem feuerroten Gesicht starrten zwei Kinderaugen mit leerem Blick um sich. Nichts mehr erinnerte Karoline an ihren Sohn. Nur die hellen Haare, die in feuchten Locken dicht am Kopf klebten, schienen dieselben zu sein. Karoline glaubte damals einen Alptraum zu erleben, als sie einen Schrei hörte und nicht wahrnahm, dass sie ihn ausgestoßen hatte. Kurz darauf war ihr Mann Jodokus in die Kammer gestürmt und hatte sie grob zur Seite gestoßen. Als auch er das ihm fremde Wesen in der Wiege erblickte, hatte er wie am Spieß gebrüllt, sodass Karoline aus ihrer Starre erwacht war.
Sie stellte den leeren Becher zur Seite und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. Auch nach so vielen Jahren ließ die Erinnerung sie frösteln. Sie vermisste ihren Sohn schmerzlich, und täglich schien die Sehnsucht nach ihm größer zu werden. Wie er wohl aussieht?, fragte sie sich an diesem wie an vielen anderen Tagen zuvor und rieb sich frierend über die Oberarme. Karoline stellte sich den Jungen vor, wie er lachend über den Hof lief und die Hühner aufscheuchte. »Lange Zeit hatte ich nichts für Kinder übrig«, flüsterte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie erinnerte sich, wie sie als junges Ding ein unstetes Leben mit wechselnden Bekanntschaften gemocht hatte. Zu jener Zeit hätte sie sich nicht mit einem Kind belasten wollen. Als jüngste Großbäuerin weit und breit lagen ihr die jungen Männer zu Füßen. Da ihre Mutter sich das Leben genommen hatte und ihr Vater ihren Bruder suchte, der sich mit seiner Braut auf und davon gemacht hatte, musste Karoline sich allein um den großen Hof kümmern. Das damals fünfzehnjährige Mädchen wurde nicht gefragt, ob es die Verantwortung für Hof und Gesinde auf sich nehmen wollte.
Doch dank ihrer herrischen Art konnte Karoline sich bei den alten Bauern durchsetzen, und der Erfolg gab ihr recht. Viele Männer warben um das wohlhabende Mädchen, weil jeder hoffte, der nächste Großbauer auf ihrem prachtvollen Hof in Hundeshagen im thüringischen Eichsfeld zu werden. Doch Karoline ließ sich von den leidenschaftlichen Schwüren der Männer nicht blenden, denn sie glaubte nicht an Liebe, Treue und Familie. Erst recht nicht, seit sie wusste, dass ihre Mutter ihrem Vater einen Bastard untergeschoben hatte – ihren Halbbruder Johann. »Mutter war eine Hure und tat recht daran, ihrem erbärmlichen Leben ein Ende zu setzen«, hatte Karoline damals zornig geurteilt und Johann ebenfalls verflucht. »Warum musste er sich in diese Magd verlieben?«, hatte sie geschimpft. »Wäre er nicht mit der Hexe durchgebrannt, hätte Vater sie nicht gesucht und mich deshalb verlassen«, richtete sich ihre Wut gegen den Bruder.
Seit nunmehr über fünfzehn Jahren hatte Karoline weder von ihrem Vater gehört, noch
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