Der Hexer - GK583 - Im Schatten der Bestie
ungeschickt über. Mein Blick fiel immer wieder auf die gegenüberliegende Wand. Aber der Schatten daran war ein normaler, menschlicher Schatten.
»Vielleicht sollte ich einen Arzt rufen«, sagte der Portier. Plötzlich schien er es furchtbar eilig zu haben, das Zimmer zu verlassen. Ich konnte es ihm nicht einmal verdenken. Wer war schon gerne in der Gesellschaft eines Verrückten?
»Bitte bleiben Sie«, sagte ich. »Ich bin gleich soweit.«
»Aber ich habe noch zu tun, und Sie können wirklich ...«
»Verdammt noch mal, Sie sollen hierbleiben!!« brüllte ich. Das Fuchsgesicht prallte erschrocken zurück und schluckte ein paarmal, blieb aber gehorsam stehen. Sein Blick wanderte durch den Raum, als hielte er nach einer Waffe Ausschau, mit der er sich im Notfall wehren konnte, sollte ich vollends tobsüchtig werden.
So rasch ich konnte – sehr rasch war es nicht, denn meine Hände zitterten noch immer so stark, daß ich kaum die Schnürbänder an meinen Schuhen zubekam – zog ich mich zu Ende an, nahm Hut und Stock vom Tisch und wandte mich zur Tür. Der Blick des Portiers saugte sich für einen Moment an meinem Gesicht fest. Dem Ausdruck in seinen Augen nach zu schließen, mußte ich fürchterlich aussehen. Lautlos trat er zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen und spähte auf den Flur hinaus. Der Gang war lang und dunkel, und es gab nur ein einziges Fenster, dessen Licht nicht bis zur Treppe fiel. Keine Schatten, dachte ich. Gut. Solange ich nicht direkt ins Sonnenlicht, vor ein Feuer oder eine Lampe trat, war ich in Sicherheit.
Vielleicht.
»Sie ... Sie wollen wirklich gehen?« fragte der Portier hinter mir.
Ich drehte mich nicht um, sondern nickte nur. »Ja. Wenn mein ... Onkel zurückkommt, dann sagen Sie ihm, daß ich ihn am Hafen erwarte. Heute abend, nach Sonnenuntergang.«
Wenn ich bis dahin noch lebte, fügte ich in Gedanken hinzu. Und wenn ich noch ich war.
** *
Der Weg war auf den letzten anderthalb Meilen immer schlechter geworden, und Bensen hatte immer öfter die Peitsche zu Hilfe nehmen müssen, um die beiden Pferde überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Aber jetzt würde ihm nicht einmal mehr die Peitsche helfen. Das Fuhrwerk saß fest, bis fast an die Achsen in Schlamm und Morast eingesunken. Er würde ein halbes Dutzend Ochsen brauchen, um den Wagen wieder flott zu bekommen.
Bensen ließ mit einem zornigen Laut die Zügel sinken, richtete sich auf dem schmalen Bock auf und trat nach hinten, auf die Ladefläche des Wagens. Norris lag zusammengekrümmt zwischen leeren Säcken und Bastkörben, die nach Fisch stanken. Er stöhnte leise, und im Laufe der letzten halben Stunde hatte er sich mindestens ein halbes Dutzend Mal übergeben; der Wagen stank durchdringend nach Erbrochenem, und Norris’ Gesicht lag in einer Pfütze hellgrauer, übelriechender Flüssigkeit. Bensen drängte seinen Ekel zurück und ging vorsichtig neben Norris in die Knie. Den Wagen hatte er sich ohnehin ›ausgeliehen‹ ohne seinen Besitzer vorher um Erlaubnis zu fragen, und Norris ...
Nun, er schien doch ein bißchen mehr als nur zuviel Salzwasser geschluckt zu haben, dachte Bensen düster. Norris hatte aufgehört, zu wimmern und um Hilfe zu flehen, aber er war noch bei Bewußtsein. Seine Augen standen einen Spaltbreit offen, und seine Hände öffneten und schlossen sich unentwegt; die Fingernägel kratzten dabei über das morsche Holz des Wagenbodens und verursachten scharrende Laute, die Bensen einen eisigen Schauer über den Rücken jagten.
»Wie geht es dir, Junge?« fragte er.
Norris versuchte den Kopf zu heben, aber er hatte nicht mehr genug Kraft dazu. »Mir ist ... so übel«, murmelte er. »Ich habe ... Schmerzen. Wo ... bringst du mich ... hin?«
Bensen seufzte. »Ich passe schon auf dich auf, Kleiner«, sagte er. »Keine Angst. Es wird schon wieder.«
»Nichts ... wird wieder«, stöhnte Norris. »Du ... du bringst mich nicht ... nicht zum Arzt.«
»Nein«, sagte Bensen ruhig. »Jedenfalls nicht heute. Du wirst es schon durchhalten.«
Norris stöhnte, drehte nun doch den Kopf und starrte ihn aus roten, entzündeten Augen an. Bensen sah, daß das Weiße in seinen Augen fast ganz verschwunden war. Seine Pupillen waren unnatürlich vergrößert, und seine Gesichtshaut war weiß mit einem Stich ins Gelbliche und da und dort gerissen wie altes trockenes Pergament.
»Ich ... ich sterbe, Lennard«, flüsterte er. »Und du ... du läßt mich krepieren wie
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