Der Hexer - NR02 - Der Seelenfresser
uns vor dem Sturm und den flammenden Energiebällen schützte; das ungeheure Potential an Energie, das in diesem so sanft erscheinenden Jungen schlummerte und das ich bisher allerhöchstens geahnt, aber nicht wirklich erkannt hatte.
Der Sturm erlosch so plötzlich, wie er entstanden war, als wir das Haus erreichten. Ein schwerfälliges, von tausenden kleiner, gleißender Lichtblitze begleitetes Zucken lief durch die lebende Wolke, und mit einem Male wurde es still, unheimlich still. Shannon ließ meine Hand los, atmete hörbar aus – und trat die Tür des kleinen Hauses mit einem einzigen kraftvollen Tritt ein. Ich zog meinen Stockdegen, als wir nebeneinander in die Hütte traten. Die Waffe fühlte sich kalt und tot in meiner Hand an, und irgend etwas sagte mir, daß sie mich trotz ihrer magischen Macht gegen diesen Gegner nicht schützen konnte.
Im ersten Moment erkannte ich nichts, denn mit Shannons Berührung waren auch die Bilder erloschen, die ich durch seine Augen sah. Dann glaubte ich Schatten zu sehen; dünne, grauflackernde Linien, die die Luft in scheinbar sinnlosen Mustern durchzogen.
Und plötzlich stand Ayres vor uns. Die Schemen teilten sich wie ein unsichtbarer Vorhang, und die alte Frau trat hervor, schmalschultrig und gebückt, wie ich sie kannte, aber um fünfzig Jahre verjüngt.
Ich unterdrückte im letzten Augenblick einen Schrei, als ich sie ansah. Es war die gleiche, bizarr verzerrte Teufelsfratze, in die ich schon einmal geblickt hatte – aber es war ein Gesicht, das ich kannte! Ich hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen! Diesen Ausdruck von Grausamkeit und Härte, die unstillbare Gier in ihren Augen, die nur durch den Anblick von Tod und Leid gestillt werden konnte. Es war mehr als ein Jahr her, und ich war bis zu diesem Augenblick der Meinung gewesen, sie endgültig besiegt und vertrieben zu haben. Es war das Gesicht der Hexe, die von Priscylla Besitz ergriffen hatte...
»Lyssa!«
Ein dünnes, grausam-überhebliches Lächeln verzerrte den Mund der Hexe. Ihre Augen blitzten spöttisch. »Ich fühle mich geehrt, Robert«, sagte sie höhnisch. »Ich hätte nicht gedacht, daß du mich wiedererkennst.«
Ich schrie auf und wollte mich auf die Hexe stürzen, aber Shannon riß mich mit einer harten Bewegung zurück, schlug mir den Degen aus der Hand und gab mir einen Stoß vor die Brust, der mich haltlos gegen die Wand taumeln ließ. Dann – noch ehe ich irgendwie reagieren konnte – fuhr er wieder herum, trat der Hexe entgegen und blieb einen halben Meter vor ihr stehen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Du!« flüsterte er mit bebender Stimme. »Ich... ich wollte es nicht glauben. Ich habe mich geweigert, es zu glauben, selbst als ich den Seelenfresser erkannt habe. Du!« Das letzte Wort klang wie ein Schrei. Ein verzweifelter Schrei.
Lyssa nickte. Ihr Blick war kalt, aber in das spöttische Glitzern ihrer Augen hatte sich eine ganz leise Spur von Unsicherheit geschlichen. »Was willst du?« schnappte sie. »Was mischt du dich ein, Shannon? Wir dienen dem gleichen Herren, vergiß das nicht. Du hattest von Necron den Auftrag, Andaras Sohn zu töten.«
»Warum?« flüsterte Shannon.
»Warum?« Lyssa lachte meckernd. »Warum was, Shannon? Andara hat –«
»Du weißt, was ich meine, Lyssa«, unterbrach Shannon sie mit bebender Stimme. »Der... der Seelenfresser. Die Menschen hier mögen glauben, was du ihnen erzählt hast, aber du und ich wissen, daß nicht einmal Andara die Macht hat, dieses Ungeheuer heraufzubeschwören. Du bist von allen die einzige, die ihn beherrschen kann. Du hast ihn hierher gerufen, und du warst es, der die Männer von Innsmouth in seinen Bann brachte. Warum, Lyssa?«
Lyssas Blick wurde hart. »Als Strafe«, sagte sie. »Andara floh hierher, nachdem er unsere Sache verraten und so vielen von uns den Tod gebracht hat. Hast du das vergessen?«
»Nein«, keuchte Shannon. »Aber warum Innsmouth? Warum das Leben so vieler Unschuldiger?«
»Niemand ist unschuldig«, erklärte Lyssa ungeduldig. »Sie haben ihn versteckt und sich damit auf seine Seite gestellt, gegen uns. Sie wurden bestraft. So einfach ist das.«
»So einfach?« keuchte Shannon. »Du... du sprichst über unendliches Leid, das ihr über Generationen gebracht habt, und –«
»Du wirst sentimental, Shannon«, unterbrach ihn Lyssa kalt. »Ich habe immer gesagt, daß du zu weich bist. Niemand ist unschuldig, der sich gegen uns stellt. Sie haben dem Hexer Unterschlupf gewährt, und sie
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