Der Hexer - NR10 - Wenn der Stahlwolf erwacht
Cindy. In ihrer Stimme schien echtes Bedauern zu klingen, aber der harte Unterton war noch immer darin. Sie klang, als verteidige sie sich. »Glaube mir, es mußte sein. ER ist sehr hungrig, und ER wird noch hungriger sein, wenn sein äonenlanger Schlaf erst einmal vorüber ist. Es war der einzige Weg.
Es ist besser«, fügte sie hinzu, »die Toten zu opfern als die Lebenden.«
Audley starrte sie aus brennenden Augen an. »Und was wird ER fressen, wenn ER erwacht ist?« flüsterte sie.
Cindys Lächeln erlosch, und sie senkte traurig ihren Blick.
»Dich«, sagte sie.
* * *
Die Ratten waren überall.
Es war wie eine zweite, um ein vielfaches schlimmere Ausgabe des Überfalles vom frühen Morgen, nur daß es diesmal im wahrsten Sinne des Wortes Legionen von Ratten waren, die sich wie eine braune Lawine aus allen Himmelsrichtungen zugleich auf die Straße ergossen und blindwütig die beiden Wagen und alles, was sich in und um sie herum bewegte, angriffen. Auch aus den angrenzenden Häusern drangen krachende und splitternde Geräusche und die spitzen Schreie von Menschen, und wohin ich auch sah, wogte und kribbelte es grau und braun.
Der kleine Wagen, in dem Cohens Männer vorausgefahren waren, war umgestürzt, genau wie unser Fuhrwerk am Morgen. Die beiden Zugpferde waren schon tot und unter einer zuckenden Masse aus Rattenleibern verschwunden, während die Insassen des Wagens verzweifelt um ihr Leben kämpften.
Es war eine Apokalypse. Die Ratten waren überall. Sie quollen aus Fenstern und Türen, sprangen uns aus den Schatten heraus an und kletterten aus Gullys und Regenrinnen. Die Welt schien nur noch aus ihnen zu bestehen.
Hinter mir peitschte ein Schuß, und einen halben Schritt vor meinen Füßen wurde eine Ratte in die Höhe gerissen. Aber für jedes Tier, das Cohen erschoß, schienen zehn neue aufzutauchen. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis uns die kribbelnde Flut überrannt haben mußte.
Cohen verschoß seine letzte Patrone, schrie vor Angst und Wut und schleuderte die nutzlose Waffe in die Masse der heranstürmenden Ratten. Zwei, drei der Tiere stießen sich ab, flogen wie pelzige graue Bälle auf ihn zu, verbissen sich in seine Arme und versuchten nach oben zu klettern, um nach seiner Kehle zu schnappen.
Ich riß den Stockdegen aus seiner Umhüllung und streifte die Tiere mit einem flachen Schlag ab. Neben mir brüllte Rowlf wie ein verwundeter Löwe, hieb mit seinen gewaltigen Fäusten um sich und torkelte auf den Wagen zu. Ein halbes Hundert Ratten scherte aus der fast militärisch anmutenden Formation der Nager aus und verstellte ihm den Weg.
Ich sah nicht weiter zu, was geschah, sondern sprang mit einem Satz an Howards Seite, befreite ihn mit einem Fausthieb von einer Ratte, die sich in seinen Nacken verbissen hatte, und ließ den Stockdegen tanzen. Aber es war, als versuche man einen Ozean mit einem Sieb leerzuschöpfen. Immer mehr und mehr Ratten brandeten heran. Der Kreis halbwegs freien Bodens, in dem wir gefangen waren, schloß sich umbarmherzig enger.
Aber noch immer griffen die Ratten nicht wirklich an. Zwar bluteten wir alle – Howard, Rowlf, Cohen und ich – schon wieder aus Dutzenden kleiner, schmerzhafter Wunden, aber es waren immer nur vereinzelte Tiere, die uns attackierten, fast, als wollten sie uns zeigen, welches Schicksal uns erwartete, uns aber noch nicht wirklich umbringen. Die Hauptmasse der Tiere beschränkte sich darauf, den Kreis um uns immer enger zu ziehen und auch die letzten Lücken in der Phalanx der mörderischen Nager zu schließen.
Schließlich hörten auch diese vereinzelten Angriffe auf. Die Ratten zogen sich sogar ein Stück zurück, ließen aber ein warnendes Zischen hören, als Rowlf versuchte, den bizarren Belagerungsring zu durchbrechen. Er hatte sich mit einer Latte bewaffnet, die er vom Wagen losgerissen hatte, und Dutzende der Tiere damit erschlagen. Nicht, daß er die Masse der Angreifer sichtlich geschmälert hätte...
Plötzlich wurde es still. Die Schreie und Kampfgeräusche verklangen nach und nach, und auch in den Häusern, die die schmale Seitenstraße säumten, machte sich eine bedrückende Stille breit. Ich senkte den Stockdegen ein wenig, wich dichter zu Howard und Cohen zurück und sah nach vorne, zum schattenerfüllten Ende der Gasse.
Trotz seiner Schaurigkeit erleichterte mich der Anblick beinahe. Der Zweispänner war zerstört, die beiden Pferde tot und von den Ratten bereits halb aufgefressen, aber bis auf den
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