Der Hexer - NR24 - Der Zug der in den Alptraum fuhr
endlich mit mir zu reden.
Aber ich hatte sie fast ebensoschnell wieder verworfen. Wenn Cody und Bodine wußten, welches Geheimnis Sitting Bull umgab, würden sie kaum mit einem Fremden wie mir darüber reden. Und wenn sie es nicht wußten, würden sie mich schlichtweg für verrückt erklären. Sonderbar genug dazu hatte ich mich bisher ja schon benommen.
Aber es gab noch eine Möglichkeit, und sie war so banal, daß ich mich fragte, warum ich nicht längst von selbst darauf gekommen war. Ich mußte mit Sitting Bull sprechen, gut. Und es gab einen Ort hier im Zug, den auch er allein aufsuchen mußte, früher oder später. Die Toiletten. Wenn alles andere nicht half, würde ich mich eben auf dem Wege dorthin postieren und ihn abfangen.
Ich wartete ab, bis es im Abteil nebenan ruhig geworden war, dann stand ich wieder auf, schlüpfte in meine Jacke und trat auf den Gang hinaus.
Alles um mich herum war still. Draußen war es längst dunkel geworden, und abgesehen vom monotonen Rattern der eisernen Räder drang nicht der mindeste Laut an mein Ohr.
Für eine Weile blieb ich reglos vor meinem Abteil stehen, dann schloß ich die Tür, ging ein paar Schritte den Gang hinunter und öffnete eines der Fenster.
Die Nachtluft strich kalt in den Wagen, aber sie verscheuchte auch die düsteren Gedanken, die sich meiner bemächtigt hatten, und für einen Moment genoß ich einfach das Gefühl, nur dazustehen und an nichts zu denken.
Aber nur für einen Moment, denn die Wirklichkeit holte mich schneller ein, als mir lieb war. Mit plötzlicher Wucht kam mir zu Bewußtsein, daß ich mich wie ein kompletter Idiot benommen hatte.
Sicher, ich war meinem Verfolger entkommen – wenn es diesen geheimnisvollen Verfolger überhaupt gab und er nicht nur eine Ausgeburt meiner überreizten Nerven war –, aber statt dem Schicksal für diese kleine Atempause dankbar zu sein, hatte ich nichts besseres zu tun, als mich kopfüber in ein neues Abenteuer zu stürzen.
Im Grunde ging mich Sitting Bull nichts an. Sein Benehmen sagte mir mehr als deutlich, daß er nur den Unwissenden spielte; wenngleich auch fast perfekt. Aber er war kein Mann, der selbst nicht wußte, was in seinem Geist geschah.
Das Geräusch einer Abteiltür riß mich aus meinen Gedanken. Ich fuhr hoch und herum, starrte angestrengt in die Dunkelheit des Ganges und fuhr beinahe schuldbewußt zusammen, als ich die Gestalt erkannte, die aus dem Abteil getreten und überrascht stehengeblieben war, als sie meinen Schatten erkannte.
Es war Annie. Sie trug ein langes seidenes Nachthemd, darüber einen Morgenrock aus Tüll, der allerdings mehr von ihrer Gestalt enthüllte, als er verbarg. Ich senkte den Blick – ganz Gentleman – und wartete, daß sie sich herumdrehen und wieder in ihr Abteil zurücktreten würde, damit auch ich die Gelegenheit fand, mich einigermaßen diskret aus der Affäre zu ziehen, aber sie dachte nicht daran, sondern schob im Gegenteil die Abteiltür hinter sich ins Schloß und kam auf mich zu.
»Hallo, Robert«, sagte sie. »Können Sie auch nicht schlafen?«
Ich schüttelte hastig den Kopf, lächelte sie an und drehte mich wieder zum Fenster. Aber so leicht gab Annie Oakley nicht auf. Sie trat näher an mich heran, lehnte sich, als wären wir zwei gute Bekannte, die sich am hellichten Tage auf einem belebten Boulevard getroffen hatten, eine Handspanne neben mir gegen die Wand und blickte aus dem Fenster.
Ich konnte das blasse Spiegelbild ihres Gesichtes deutlich auf der Scheibe erkennen. Deutlich genug jedenfalls, um zu sehen, daß mich ihre dunklen Augen direkt anblickten.
»Ich bin froh, Sie getroffen zu haben, Robert«, sagte sie. »Allein.«
»So?« Ich wandte kurz den Blick, sah sie an und starrte wieder aus dem Fenster. Zum Teufel, Annie Oakley war eine verdammt hübsche und gut gebaute Frau, und sie trug praktisch nichts! Dachte sie, ich wäre aus Holz?
»Ich möchte Ihnen noch einmal danken, daß Sie mir das Leben gerettet haben«, sagte sie. Und damit packte sie mich fast grob am Kragen, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte mich.
Im ersten Moment war ich so perplex, daß ich mich nicht einmal rührte, aber dann spürte ich, wie weich und süß ihre Lippen schmeckten. Für eine endlose, berauschende Sekunde erwiderte ich ihren Kuß, preßte sie an mich und fühlte, wie weich und erregend der Körper war, der sich unter der glatten Seide ihres Negligés verbarg.
Dann wurde mir schlagartig klar, wo wir waren. Und vor allem, wer sie
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