Der Hexer - NR27 - Todesvisionen
hing ich so da, halb gegen den Fels gelehnt und nur von dem Roten aufrecht gehalten. Dann wandte der Indianer den Kopf und sah mich aus brennenden Augen an. Und das im wahrsten Sinne des Wortes! Die Pupillen seiner Augen waren vollends verschwunden und hatten einem gleißenden, pulsierenden Leuchten Platz gemacht. Roter Widerschein erhellte sein Gesicht, als er mich weiter zu sich heranzog und mich anstarrte wie ein Raubtier sein wehrloses Opfer. Seine Züge verzerrten sich zu einer wilden Grimasse der Wut. Und trotzdem glaubte ich für einen Moment, so etwas wie... Enttäuschung darin zu erkennen.
Dann – urplötzlich – ließ er mich los.
Vollkommen überrascht stolperte ich zurück und hob abwehrend die Hände. Aber das war unnötig, wie ich bald erkannte – der Indianer machte keine Anstalten, mich nochmals anzugreifen. Das Feuer in seinen Augen erlosch, und das Grau seiner Haut wurde fleckig und dunkel.
Und dann öffnete er die versteinerten Lippen, und seine rauhe, haßerfüllte Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Du bist nicht Ta-tan-ka I-yo-ta-ke. Du bist nicht der Mörder.«
Nur diese Worte. Mehr nicht. Er drehte wieder den Kopf und blickte in die Weite der Mojave-Wüste hinaus, als wäre nichts geschehen. Die Glut in seinen Augen erlosch endgültig, und dann griff er mit einer schwerfälligen, seltsam eckigen Bewegung nach der Decke und schwang sie sich wieder um die Schultern.
Wie lange ich noch reglos dastand und ihn anstarrte, während meine Gedanken wild im Kreise rasten, weiß ich nicht mehr. Er hatte mich töten wollen, und nun? Mein Verstand wollte sich nicht damit abfinden, was meine Augen sahen. Drohte von einer anderen Seite Gefahr, die ich nicht bemerkt hatte?
Ich wirbelte herum, drehte mich auf dem Absatz im Kreis. Und dann fiel auch mein Blick hinaus auf das endlose, sandige Meer.
Ein gellender Schrei brach über meine Lippen. Instinktiv riß ich die Arme schützend vor das Gesicht, taumelte zurück und stürzte in den Sand, kroch hastig noch weiter zurück und kam stolpernd wieder auf die Beine.
Es war ein Bild wie aus einem qualvollen Alptraum; schrecklicher als alles, was ich bisher je erblickt hatte.
Die endlose Wüstenlandschaft war übersät mit Leichen.
Ich schlug die Hände vor die Augen, doch mein Blick schien durch Fleisch und Knochen hindurch zu gehen, und das Bild brannte sich mit schrecklicher Klarheit in mein Gedächtnis und ließ mich wie von Sinnen schreien.
So weit mein Blick auch ging – überall, bis zum fernen Horizont und wahrscheinlich noch darüber hinweg, lagen die blutigen Körper von Indianern in voller Kriegsbemalung und Weißen in der Uniform der Kavallerie der Vereinigten Staaten; Körper, die von Speeren und Pfeilen, von Säbeln und Kugeln getroffen worden waren, wie von einem schrecklichen Sämann über den weißen Sand verstreut. Körper mit gebrochenen Augen und weit aufgerissenen Mündern, aus denen der klagende Laut wehte.
Ein blutiges Schlachtfeld.
Little Bighorn.
Ich wußte es im selben Moment, als ich die Uniformen erkannte, wußte es mit lähmender Gewißheit, obwohl ich nie eine Illustration oder eine Fotografie des schrecklichen Massakers gesehen hatte, daß dies die Vision von Little Bighorn war, dem schwärzesten Kapitel der amerikanischen Geschichte. Eine Vision!
Und mit dieser Erkenntnis verlor der Schrecken seine Macht. Es konnte nicht Wirklichkeit sein! Ich mußte dies alles... träumen!?
Mit einem Ruck fuhr ich herum. Vor mir erstreckte sich das Lager – und nichts hatte sich verändert! Nicht einer der über zwanzig Männer war durch mein Schreien erwacht. Und dann wanderte mein Blick zu meiner Schlafstatt, und ich sah –
mich selbst, in eine wollene Decke gehüllt und friedlich schlafend!
* * *
Es war ein prächtiger Tag im Juni des Jahres 1876. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und ließ die Luft flirren, aber den Mann, der zusammengesunken im Zentrum der Siedlung saß, konnte sie nicht wärmen. Sein Körper war kalt wie die Nacht, und es war eine Kälte, die von innen kam, aus seiner Seele. Seine Augen, rot entzündet schon und tränend, blickten auf zu dem fernen, gleißenden Gott am Firmament, starrten in die Sonnenglut, ohne sich auch nur einmal zu schließen. Sein Rücken, an den aufgestellten Stamm einer frisch gefällten und in vier Farben bemalten Pappel gelehnt, war übersät mit schorfigen Narben, nicht wenige erst notdürftig verheilt. Von seinen Armen rann Blut in schweren, dunklen Tropfen
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