Der Hexer - NR30 - Buch der tausend Tode
lebte. Und es hätte sich wahrscheinlich über meine albernen Anstrengungen schwarz gelacht – wenn es das nicht schon gewesen wäre.
Shannon ergriff mich abermals bei der Schulter und schüttelte mich. »Robert – hör mir zu!« sagte er beschwörend. »Wir haben nicht mehr viel Zeit!«
Ich nickte, aber es war nur ein bloßer Reflex auf den Klang seiner Stimme, keine wirkliche Antwort. Trotzdem fragte ich:
»Können wir es vernichten?«
»Diesen Körper? Selbstverständlich«, antwortete Shannon, und fügte hinzu: »Wir könnten es beispielsweise verbrennen. Oder die Ausgänge dieser Höhle verstopfen, so daß es erstickt. Es ist lebende Materie. Es muß atmen. Aber es würde nichts nutzen.«
Seine Worte versetzten mich jäh in Zorn, der wahrscheinlich nichts als eine Schutzreaktion meines Geistes war, damit ich nicht vollends den Verstand verlor.
»Wie bitte?« keuchte ich. »Es würde nichts nutzen? So wie bei Necron? Oder –
»Robert, bitte!« sagte Shannon scharf. »Ich will es dir ja erklären. Hör mir zu. Hör mir nur eine Minute zu.«
Ich nickte, trat einen halben Schritt zurück und blickte wieder auf die schwarzglänzende Masse zu meinen Füßen herab. Es war ein unbeschreiblich widerwärtiger Anblick – ein glatter, mattglänzender Spiegel, der nur auf den ersten Blick leblos zu sein schien. Sah man genauer hin, gewahrte man ein ganz sanftes Pulsieren und Beben, ein Zucken wie von einem riesigen fauligen Organ, das sich dicht unter der Oberfläche dieser Alptraummasse verbarg.
»Das hier«, begann Shannon, »ist nichts als Protoplasma. Ein Teil Shub-Nigguraths; ein wichtiger, aber doch ersetzbarer. Im Augenblick ist es nichts als eine gewaltige Masse lebender, aber gehirnloser Zellen.«
»Es hat sich geteilt«, murmelte ich.
Shannon nickte. »Ja. Es teilt sich unentwegt. Das ist Shub-Nigguraths größte Waffe. Es ist verwundbar, vielleicht als einziger der GROSSEN ALTEN, aber eine einzige Zelle reicht, daraus ein neues Wesen entstehen zu lassen. Daher hat er seinen Namen. Er wurde unzählige Male vernichtet, und er hat sich unzählige Male wieder erneuert. Wenn es Necron gelingt, die SIEBEN SIEGEL zu vereinen, dann werden aus diesem Plasmasee die Körper der GROSSEN ALTEN entstehen, in die ihr befreiter Geist fahren kann.« Er seufzte. »Aber es würde nichts nutzen, ihn zu vernichten.«
Ich sah ihn fragend an, und wieder huschte ein fast wehleidiges Lächeln über Shannons Züge. »Es ist so schwer zu verstehen«, murmelte er hilflos. »Ich weiß auch nicht viel; nicht mehr, als Necron mir verraten hat, und das war wenig genug, selbst als er mir noch vertraute. Das hier – Er wies auf den See. » ist nicht mehr als vergängliche Materie. Aber es gibt eine...«, er suchte nach Worten, »... eine Art Mutterzelle. Ein Stück des wirklichen Ungeheuers, das irgendwo verborgen ist.«
»Irgendwo?«
Shannon zuckte mit den Achseln. »Hier, in der Burg, in einer anderen Stadt – vielleicht am anderen Ende der Welt. Es muß hierherkommen, um die Wiedererweckung zu vollziehen, aber ich glaube nicht, daß es jetzt hier ist. Du hast den GROSSEN ALTEN schon zu sehr geschadet, als daß sie nicht wüßten, wie gefährlich du bist. Es wird sich verbergen, bis der entscheidende Moment gekommen ist.«
»Ich verstehe«, antwortete ich düster. »Und wenn wir das hier vernichten, dann wird es irgendwo neu entstehen.«
Shannon nickte. »Ich fürchte ja. Deshalb wäre es nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, es zu zerstören. Außerdem würde es Necron verraten, wo wir sind.«
»Warum hast du mich dann hierher gebracht?« fragte ich zornig. »Während wir hier herumstehen, ist Necron vielleicht damit beschäftigt, Priscylla auch noch zu töten.«
»Das wird er ganz bestimmt nicht tun, Robert«, antwortete Shannon. »Und ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund hierher geführt. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Etwas in seiner Stimme ließ mich alarmiert aufsehen. Etwas, das mir ganz und gar nicht gefiel. »Und was?« fragte ich.
»Dies hier«, antwortete Shannon. Und damit ergriff er meine Hand, so schnell, daß ich keine Gelegenheit mehr fand, mich zu widersetzen.
Und ich sah.
Es war genau wie die Male zuvor, als ich durch Shannons Augen geblickt hatte. Die Welt kippte um, aus Weiß wurde Schwarz, aus Dunkel Helligkeit, alle Farben waren fort, aber statt ihrer vermochte ich andere Dinge zu sehen, Dinge, die dem normalen menschlichen Auge auf immer verborgen bleiben: die pulsierenden
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