Der Hexer - NR30 - Buch der tausend Tode
überraschter war – er oder ich.
Und ich wußte auch hinterher nicht zu sagen, wieso ich die nächste Minute überlebte.
Vielleicht war er einfach zu überrascht, im Ernst anzunehmen, daß ich tatsächlich die Dreistigkeit besitzen würde, ihn anzugreifen.
Aber ich hatte sie.
Ich besaß sogar die Frechheit, auf ihn zuzuspringen, und ihm in den Leib zu treten, und dann brachte ich sogar noch die Unverschämtheit auf, meinen Ellbogen mit aller Wucht in seinem Nacken zu plazieren, als er sich krümmte. Ohne einen weiteren Laut stürzte er nach vorne und blieb regungslos liegen. Nein, dachte ich spöttisch, die feine englische Art war das nicht gewesen. Aber eine sehr wirksame.
Ich beugte mich zu ihm herab und überzeugte mich davon, daß er für mindestens eine Stunde außer Gefecht gesetzt war. Dann nahm ich sowohl seinen Säbel als auch seinen Dolch an mich, stand wieder auf und schob den Riegel der Zelle zurück, die er bewacht hatte.
Wie ich erwartet hatte, war sie nicht leer. Eine schmale, in fransiges helles Leder gekleidete Gestalt hockte in einer Ecke und sah mühsam auf, als ich eintrat. Trotz des trüben Lichtes in der Kerkerzelle sah ich, wie müde und ausgelaugt Sitting Bulls Gesicht aussah; nicht mehr das Gesicht eines zwar alten, aber noch immer starken Mannes, sondern das eines Greises, müde und leer und... ja, dachte ich entsetzt; zerbrochen.
»Häuptling!« Sitting Bull bewegte den Kopf, als er meine Stimme hörte und ich neben ihm niederkniete, aber er schien mich nicht zu erkennen. Seine Hände zitterten, und seine Lippen formten Worte in seiner Muttersprache, die ich nicht verstand. Ich berührte ihn an der Schulter, zog die Hand aber sofort wieder zurück. Der Körper unter dem schmutzig gewordenen Leder zitterte. Seine Haut war heiß. Er mußte hohes Fieber haben.
»Blitzhaar?« murmelte er plötzlich. »Bist... du das?«
Ich atmete auf, erleichtert, daß er mich wenigstens erkannte. »Ja«, antwortete ich. »Keine Angst, Häuptling. Es ist alles in Ordnung. Ich bin hier, um Sie zu befreien.« Ich griff nach seinem Arm, um ihn in die Höhe und aus der Kammer zu ziehen, aber Sitting Bull schüttelte unerwartet heftig den Kopf und streifte meine Hand ab.
»Nicht«, sagte er. »Ich wäre... nur eine Last für dich. Ich kann nicht mehr... kämpfen.«
Rein instinktiv wollte ich widersprechen, aber dann begegnete ich seinem Blick und nickte statt dessen. Es gab Momente, in denen selbst eine barmherzige Lüge nur schadete. Sitting Bull hatte recht – vor mir saß ein zerbrochener, müder alter Mann, der kaum mehr in der Lage war, auf eigenen Füßen zu stehen. Hätte ich ihn mitgenommen, hätte er uns beide nur in Gefahr gebracht. Aber ich konnte ihn auch nicht hierlassen.
»Können Sie laufen, Häuptling?« fragte ich.
Sitting Bull nickte, und ich erklärte ihm den Weg hinunter, so gut ich konnte. Ich verschob das Problem damit nur, statt es zu lösen, denn einen Ausweg aus dieser gewaltigen steinernen Falle gab es auch unten in der Höhle nicht. Aber wenigstens war Sitting Bull dort vor der unmittelbaren Gefahr, sofort wieder gefangen und womöglich umgebracht zu werden, sicher. Und wenn Necron tatsächlich hinunterkam und Shannon besiegte – nun, dann brauchten wir alle uns ohnehin um nichts mehr Sorgen zu machen. »Wissen Sie, wo Shadow ist?« fragte ich zum Abschluß.
Ein Schatten huschte über Sitting Bulls Gesicht. »In... einer der Zellen«, antwortete er stockend. »Vorne, am anderen Ende des Ganges. Aber es wäre besser, du würdest... nicht hingehen, Blitzhaar.«
»Warum?« fragte ich.
»Du kannst ihr nicht helfen«, sagte Sitting Bull ernst. »Suche lieber das andere Mädchen. Sie ist in Gefahr, das spüre ich. In großer Gefahr. Etwas Böses geschieht.«
Ich antwortete nicht darauf, sondern blickte ihn nur schweigend an, bis er sich – ebenfalls ohne ein weiteres Wort – umwandte und den Weg zurückzuschlurfen begann, den ich selbst vor wenigen Augenblicken gekommen war. Aber ich wartete noch, bis er das Ende des Korridors erreicht hatte und hinter der Biegung verschwunden war, ehe auch ich mich herumdrehte und die Zellen eine nach der anderen zu durchsuchen begann.
Sehr viele waren es ohnehin nicht. Der Korridor bestand praktisch aus nichts anderem als dicht nebeneinanderliegenden Türen, hinter denen sich Zellen verbargen, aber die meisten standen offen, so daß ich sie auslassen konnte. Die erste Zelle, deren Tür ich öffnete, war leer, ebenso die zweite und
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