Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London
vermutlich in einer Anwandlung von Nostalgie auf Ihren Sekretär gestellt haben. Ihr Pech war, daß ich dieselbe Fotografie schon in der Baskervilleschen Familienchronik gesehen hatte. Sie stellt Rodger Baskerville dar, einen jüngeren Bruder von Sir Charles. Und daß Sie der Sohn dieses Rodger sind, der angeblich kinderlos in Südamerika verstorben sein soll, ist bei der unverkennbaren Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrem Vater unverkennbar.«
»Und selbst wenn dem so wäre?« sagte der Ertappte heiser. »Ist es ein Verbrechen, ein unehelicher Nachkomme der Baskervilles zu sein?«
»Gewiß nicht«, lächelte Holmes. »Aber es ist ein Verbrechen, wenn man versucht, sich mittels mörderischer Methoden das Familienerbe zu erschleichen. Und genau das haben Sie getan. Sie haben die alberne Legende mit dem sogenannten Höllenhund, dem angeblichen Fluch der Baskervilles, wieder aufleben lassen und sich zunutze gemacht, indem Sie dieses arme Tier hier mißbrauchten. Sie wußten, daß Sir Charles schwer herzkrank und auch abergläubisch war. Ihn durch den Hund zu Tode zu erschrecken, fiel Ihnen nicht schwer. Nun mußten Sie nur noch auf eine günstige Gelegenheit warten, um auch Sir Henry auszuschalten. Als Sie ihn dann heute einluden, war mir völlig klar, daß Sie auf dem Rückweg, hier im Moor, den Hund auf ihn hetzen würden.«
Stapleton alias Baskerville atmete schwer. »Sie können mir nie beweisen, daß ich den Hund...«
»Oh, doch, das kann ich. Nachdem ich erst hinter diesen – zugegebenermaßen recht gelungenen – Phosphortrick gekommen war, brauchte ich nur noch die Chemikalienhandlung zu finden, in der Sie die Mixtur gekauft haben. Und davon gibt es in Coombe Tracey ja nicht allzu viele!«
Der Verbrecher erkannte, daß sein Spiel verloren war. Blitzschnell drehte er sich um, um zu seinem Haus zurückzulaufen. Aber Dr. Watson versperrte ihm den Weg, die Pistole im Anschlag.
»Noch einen Schritt, Freundchen...«
Stapleton war der Verzweiflung nahe, denn was er jetzt tat, konnte nur ein Mensch wagen, der keinen Ausweg mehr wußte. Mit einem mächtigen Sprung verließ er den Pfad und stürmte ins Moor hinein.
Niemand von uns konnte schnell genug reagieren, um ihn aufzuhalten. Ich wollte ihm nach, doch Henry Baskerville ergriff meinen Arm und hielt mich zurück. »Nicht, Mr. Craven!« rief er beschwörend. »Sie kämen keine zehn Schritte weit. Das Moor ist tückisch an dieser Stelle. Mein Cousin kennt sich hier aus; ihm zu folgen, wäre Selbstmord.« Etwa eine Minute lang waren noch Stapletons stampfende Schritte und das Brechen von Gehölz und Schilf zu hören. Dann plötzlich Stille. Und schließlich... ein gellender Schrei!
»Guter Gott«, sagte Sir Henry. »Er ist in ein Sumpfloch geraten.«
»Genau dieses Schicksal hatte er Ihnen zugedacht«, sagte Sherlock Holmes. »Für den Fall, daß es Ihnen gelungen wäre, dem Hund zu entkommen...«
* * *
Zum letzten, zum allerletzten Mal, das hatte er sich hoch und heilig geschworen, war John Barrymore ins Moor gegangen. Zum letzten Mal hatte er sich aufgemacht, um Seiden, dem aus dem Zuchthaus ausgebrochenen Schwerverbrecher, der unglücklicherweise der mißratene jüngere Bruder seiner Frau Eliza war, Fleisch und Brot zu bringen.
Doch als Barrymore die Höhle erreichte, die sich Seiden am Rand einer Morastmulde als Unterschlupf gesucht hatte, erkannte er, daß sein ungeliebter Schwager keine Verpflegung mehr brauchte.
Seiden lebte nicht mehr. Ihn hatte dasselbe furchtbare Schicksal ereilt, wie schon Frederic Murphy und Constable Calhoun vor ihm...
* * *
Ein weiterer Tag war vergangen, und wir saßen in der Bibliothek von Baskerville Hall zusammen. Und obwohl das Geheimnis um den vermeintlichen »Höllenhund« nun endlich gelüftet war, kam keine allzu gute Stimmung auf. Das war nur allzu verständlich – nachdem die erste Erleichterung sich gelegt hatte, mußten auch die letzten unserer kleinen Gesellschaft zu dem gleichen Schluß kommen, den ich mir schon lange zurechtgelegt hatte: Die Morde – inzwischen drei an der Zahl; Sir Henrys Butler Barrymore hatte am gestrigen Abend noch gemeldet, die Leiche des Sträflings Seiden im Moor gefunden zu haben – waren nicht etwa von dem zwar ehrfurchtgebietenden, doch gänzlich normalen Hund verübt worden. Jedenfalls war keinem von uns bisher von einem Hund zu Ohren gekommen, der seine Opfer erst erwürgte und dann bis auf den letzten Blutstropfen aussaugte. Nein, die Bestie, die die drei Menschen auf
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