Der Hexer von Hymal 01 - Ein Junge aus den Bergen
ein trauriges Bild. Die Hütte war durchwühlt und gründlich geplündert. Ob dies die fremden Schergen gewesen waren oder die Dorfbewohner, wusste er nicht. Alles war wild durcheinander, die vielen Flaschen und Gläser zerbrochen oder gestohlen. Die Bücher zerrissen. Die Kisten aufgebrochen und geleert. Nikko ging dennoch kopfschüttelnd hinein, um sich ein genaueres Bild zu machen.
So genau er sich auch umschaute, nichts von Wert hatten die Plünderer gelassen. Viele zerrissene Seiten aus den Büchern lagen auf dem Boden. Dem enttäuschten Jungen war klar, dass es wohl ewig dauern würde, diese wieder zusammen zu setzen. Dazu waren viele Blätter verschmiert und versengt.
Als er dann fast schon wieder gehen wollte, fiel sein Blick in den Kamin, wo er im Augenwinkel kurz etwas Rotes sah. Bei genauerem Hinsehen, erkannte er das Siegel des geheimnisvollen Briefs wieder, mit dem alles Unglück begonnen hatte. Der Junge griff vorsichtig in die Asche und nahm die beiden Hälften des gebrochenen Siegels an sich. Vom Rest des Briefs schien leider nichts mehr übrig zu sein. Hatte der Alte das Schreiben selbst verbrannt?
Nikko befreite die beiden Hälften des Siegels vom Ruß und hielt sie zusammen. Von den vielen Symbolen, die er damals gesehen hatte, war nicht mehr viel zu erkennen. Nur ein geschwungenes P konnte er noch ausmachen. War dies vielleicht ein Hinweis auf den Absender? Dieser würde sicherlich viel Licht ins Dunkel bringen können, dachte Nikko bei sich und steckte die beiden Hälften des Siegels vorsichtshalber ein.
Am Abendtisch saß die gesamte Familie dann wieder beisammen. Auch die Geschwister, die tagsüber auf den Almen waren, hatten sich dazugesellt. Nikkos Geschichte hatte sich auch unter ihnen schon unlängst verbreitet. Darum herrschte am Tisch eine seltsame Ruhe. Es war wohl Gimus finsterer Blick, der allen die Worte raubte. Nur die robuste Mutter schien davon wie immer unbeeindruckt.
»Willst du dich nicht erst noch etwas ausruhen, Junge?«, fragte sie mit mütterlicher Sorge in Richtung Nikko. »Du warst doch so lange krank. Der Weg nach Hocatin ist schließlich weit.«
»Danke, Mutter. Mir geht’s gut. Und wenn der fette Fodaj den Weg schon schafft…«, entgegnete Nikko mit einem verschmitzten Lächeln. Mit dem gelungenen Scherz erntete er einige Lacher unter den Anwesenden, nicht jedoch von Gimu. Der bullige Bruder stierte ihn nur finster an.
»Junge, sei doch vernünftig«, drängte die Mutter. »Was willst du denn überhaupt in der großen Stadt?«
»Lass ihn nur, Mutter«, sprach Gimu mit aufgetragener Miene. »Soll er doch besser in Hocatin scheitern, als uns hier weiter auf der Tasche zu liegen.«
»Gimu!«, fuhr die gute Frau barsch dazwischen, »sei nicht immer so gehässig! Der Junge ist nicht groß und stark, aber ein guter Hirte.«
»Ach ja, schwierige Aufgabe. Den ganzen Tag faul auf der Alm zu liegen«, spottete das frisch gebackene Familienoberhaupt weiter. »Glaub mir, Mutter. Es ist besser so. Reisende soll man nicht aufhalten.«
Damit war die Diskussion beendet. Viel wurde diesen Abend am Tisch dann nicht mehr gesprochen. Fast schien es, als ob die Geschwister Nikko aus Angst vor Gimu mieden. Mit gesenkten Blicken aßen sie schweigend ihr Abendmahl und verließen dann schnell die Küche.
Zu Nikkos Überraschung durfte er diese letzte Nacht nun doch in Großvaters Zimmer verbringen. Fast schien es, als wollte Gimu ihn von den anderen Geschwistern fernhalten. Vielleicht hatte er Angst, einige könnten sich auf die Seite des aufmüpfigen kleinen Bruders schlagen. Immerhin hatte der sonst so schwächliche Junge ihm heute kräftig die Stirn geboten. Als neuer Herr über den Hof jedoch, konnte sich Gimu keinen Autoritätsverlust leisten.
Nikko hatte einen ausgezeichnet guten Schlaf im Bett des Großvaters genießen können. Er war ausgeruht und guter Dinge, als er am nächsten Morgen zum Frühstück kam. Absichtlich später war er gekommen, so dass die Familie schon bei ihren Pflichten war. Nur die emsige Mutter war noch in der Küche.
Er genoss ein gutes Mahl. Brot mit Butter und Honig, sowie ein Ei ließ er sich genüsslich schmecken. Jetzt erst überlegte er, was er eigentlich mit nach Hocatin nehmen sollte. Insbesondere das große Buch war ihm zu schwer und öffnen konnte er es ohnehin nicht. Nur wo sollte er es lagern?
»Ich habe dir Proviant für etwa eine Woche eingepackt«, sprach die Mutter dann mit sanfter Stimme. »Auch ein paar Münzen für die große
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