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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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seiner langen Amtszeit nichts Vergleichbares passiert. Nicht ein solcher Mensch
     wie Karbe, nicht ein solches Unglück.
     
    Er beschloss, spazieren zu gehen. Er brauchte Bewegung und Distanz. So groß die Wohnung auch war, sie bedrückte ihn. Noch
     in der Generation seines Vorgängers waren nahezu alle protestantischen Pfarrer verheiratet gewesen. Heutzutage entschlossen
     sich die Frauen nicht mehr so leicht, einen Landpfarrer wie ihn zu heiraten, schon weil sie Berufe hatten, die sie nur in
     der Stadt ausüben konnten. Aber das war nicht der einzige Grund gewesen. Nicht der entscheidende. Claudia war vor einem Leben
     mit ihm zurückgeschreckt.
    Manchmal, wenn er an sie dachte, sah er sie beunruhigend nah und deutlich vor sich: ihr schmales, irgendwie unfertiges Gesicht,
     das nicht besonders vital, aber zäh und eigensinnig wirkte. Ihr braunes Haar hatte sie nach hinten gebürstet und im Nacken
     mit einem Samtband zusammengefasst, aus dem es wie eine dicke Quaste zwischen ihren Schultern hing. Sie war nicht hübsch,
     aber sie hatte etwas an sich, was Männer anzog. Vielleicht war es der Widerspruch zwischen Zartheit und Willensstärke, der
     in der Zeit |55| ihrer Bekanntschaft immer deutlicher hervorgetreten war.
    Als er sie kennenlernte, bei einer Demonstration, war sie noch Studentin der Fachhochschule für Design gewesen, beschäftigt
     mit einer Abschlussarbeit für die Fotoklasse. Er hatte den Begleittext ihrer Arbeit durchgesehen und stilistisch überarbeitet.
     Dieses letzte halbe Jahr bis zu ihrem Examen war die beste Zeit ihrer Beziehung gewesen. Ihr Praktikum in einer Werbeagentur
     hatte sie mit anderen Menschen in Verbindung gebracht. Und obwohl sie anschließend keinen Job gefunden hatte, war sie immer
     weiter von ihm abgerückt.
    Nein, sie hätte nicht in dieses ländliche Pfarrhaus gepasst. Noch weniger als er. Aber es war ja seine Wahl gewesen. Sie dagegen
     war frei. Sie hatte sich umgeschaut und eine eigene Wahl getroffen. Vielleicht hatte sie inzwischen ja auch Erfolg. Er wusste
     es nicht, würde es auch nicht erfahren. Abgesehen davon wäre es für sie beide keine Perspektive gewesen, wenn Claudia sich
     aus sozialer Not von ihm hätte überreden lassen, seine Frau zu werden. Nein, so weit brauchte er gar nicht zu denken. Das
     war absurd. Merkwürdig war allerdings die Heftigkeit, mit der sie in ihren letzten Gesprächen die Existenz eines Landpfarrers
     entwertet hatte. Das war eine Hinterlassenschaft, an die er nicht denken mochte.
    Draußen im Freien fühlte er sich weniger beengt. Im Gehen konnte er leichter denken, beiläufiger. Ja, das war der Sinn dieses
     Wortes. Man bewegte sich, und die Gedanken bewegten sich von selbst, als wäre |56| man nicht für sie verantwortlich. Neue Gedanken hatte er meistens, wenn er sich bewegte.
    Er schlug den Fußweg zum Baggersee ein, der zu dem anderen, der Landstraße gegenüberliegenden Waldufer führte. Man kam in
     dieser Richtung schneller aus dem Ort heraus, durchquerte allerdings vorher ein Neubaugebiet aus weiß getünchten Einfamilienhäusern
     mit Haustüren von beklemmender Geschmacklosigkeit. In den Vorgärten standen junge Blautannen und Thujabäume, dazwischen manchmal
     als dekoratives Element Wagenräder mit rot gestrichenen Speichen oder eine als Geranienbeet benutzte Schubkarre. Ein kleiner
     Springbrunnen spie wie die Munddusche eines Zahnarztes einen dünnen Wasserstrahl aus. Auf dem Rand des Auffangbeckens saß
     ein Keramikfrosch. Der Nachbar dieses Arrangements hatte eine Keramikwindmühle auf einen bemoosten Hügel gestellt, auf den
     ein von weißen Kieseln gesäumter Weg führte.
    Er konnte an diesen Vorgärten nicht ohne das Gefühl stellvertretender Beschämung vorbeigehen. Was sollte er Leuten predigen,
     deren Innenleben aussah wie diese Inszenierung von gemüthaftem Kitsch? Ein Gespräch fiel ihm ein, das er vor Jahren aus einem
     ähnlichen Anlass mit seinem Studienfreund Patrik Graefe geführt hatte. Patrik, der immer gut für überraschende Formulierungen
     war, hatte im Handumdrehen eine Theorie über die Paradiesunfähigkeit des Menschen entwickelt. Das Biedere und Idyllische,
     das immer beanspruchte, auch das Moralische zu sein, war demnach stets das Symptom der Verleugnung |57| eines fundamentalen menschlichen Mangels. Patrik hätte diese Vorgärten als heruntergekommene Paradiesbilder bezeichnet. Hinter
     ihrer Unechtheit verbarg sich das falsche Leben und gab sich zugleich ungewollt zu erkennen. Sollte

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