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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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sie sprach, waren ihre Zuverlässigkeit
     und ihre langjährige praktische Erfahrung. Die Unterlagen für die Presbyteriumssitzung am Mittwochabend hatte sie noch vor
     ihrer Abreise zusammengestellt und ordentlich abgeheftet.
    Es war wichtig, dass die Mitglieder des Kirchenvorstandes bei den Sitzungen eine Informationsmappe |64| in die Hand bekamen, damit das Gespräch nicht auseinanderlief. Diesmal war zu erwarten, dass der katastrophale Unfall in der
     Nacht von Samstag auf Sonntag zum Hauptthema der Sitzung wurde und die sachlichen Themen in den Hintergrund gerieten. Das
     wollte er nach Möglichkeit verhindern. In der Zeitung hatte heute zwar nur eine Meldung gestanden. Doch die Formulierung,
     dass wegen des ungeklärten Unfallverlaufs umfangreiche polizeiliche Ermittlungen eingeleitet worden seien, schuf Platz für
     jede Art von Phantasie. Umso wichtiger war es, dass er vorher noch mit Karbe sprach, am besten sofort.
    Aber als er Karbes Nummer wählte, sprach wieder die weibliche Tonbandstimme ihre Litanei. Das hatte er schon so erwartet.
     Der Mann musste erst einmal zu sich kommen. Besorgniserregend war das noch nicht. Möglicherweise wurde er noch einmal von
     der Polizei vernommen, weil er in der Unglücksnacht nicht vernehmungsfähig gewesen war. Oder er war ins Krankenhaus gefahren,
     um nach dem Jungen zu sehen.
    Vorstellen konnte er sich das nicht. Für ihn war Karbe eine verschlossene Person, in die er nicht hineinblicken konnte.
    Eigentlich wollte er es auch nicht. Das Gespräch, das er mit Dr. Kühne geführt hatte, war schon viel zu weit gegangen. Noch
     aufgewühlt von seinen nächtlichen Eindrücken hatte er sich der eigenen Neugier nicht widersetzen können. Nein, Neugier konnte
     man es nicht nennen. Es war etwas Fremdes, Unheimliches, fast so etwas wie ein unerwartet in ihm |65| aufgetauchter Wunsch, die schlimmste Möglichkeit solle zum Vorschein kommen. Er hatte sich sofort gegen diesen Impuls gesträubt
     und Kühnes Spekulationen abgewiesen, anscheinend so heftig, dass er sich erst jetzt wieder daran erinnerte. Das war ich nicht,
     dachte er. Das ganze Geschehen hat mich einfach überrumpelt.
    Es klingelte. Das war der Postbote. Vorhin, als er die Zeitung heraufgeholt hatte, war die Post noch nicht da gewesen. Sie
     kam immer später in der letzten Zeit und war immer dürftiger. Auch dieses Mal waren es vor allem Werbeschriften. Darunter
     ein weiteres Angebot für die neue Bestuhlung des Gemeindesaals, über die sie am Mittwoch sprechen wollten. Er schaute es flüchtig
     an und legte es zu den Unterlagen.
    Im Augenblick gab es nichts Dringendes mehr zu tun. Nun konnte er sich, wie geplant, mit dem Thema seiner nächsten Predigt
     beschäftigen und sich dabei auch Gedanken über ein Statement für die bevorstehende Akademietagung machen, um das Patrik ihn
     schon vor längerer Zeit gebeten hatte. Sie hatten mehrmals darüber telefoniert, und er hatte zunächst gesagt, er sei gegenwärtig
     zu sehr in Widersprüche und Unklarheiten verstrickt, um etwas Perspektivisches formulieren zu können. Patrik hatte geantwortet:
     »Aber dann hast du ja ein Thema. Ein sehr aktuelles sogar.« Und er hatte auch gleich einen Titel vorgeschlagen: »Das Leben
     als Widerspruch und die Einheit des Glaubens.«
    »Schönes Plakat«, hatte er gesagt. »Aber das sind doch nur Worte.«
    |66| »So wie sie dastehen, ja«, hatte Patrik geantwortet. »Du musst sie natürlich auf ihren verborgenen Sinn abhorchen. Das ist
     doch unser Job.«
    »Das sind ja gerade meine Schwierigkeiten«, hatte er geantwortet.
    Prompt wie ein perfekter Vorhandschlag war Patriks Return gekommen: »Dann sprich doch darüber. Sprich über deine Schwierigkeiten.
     Das ist es doch!«
    »Na ja, wenn es keine echten Schwierigkeiten wären.«
    »Sei nicht so spitzfindig«, hatte Patrik geantwortet. »Du bist kein Sonderfall, sondern ein Beispiel für viele. Und das verpflichtet
     dich.«
    Schließlich hatte er halbwegs zugestimmt und gesagt, er wolle darüber nachdenken. Das hatte er sich für heute und für morgen
     vorgenommen. Zunächst einmal wollte er sich Notizen für eine seiner nächsten Predigten machen und dabei gleichzeitig und sozusagen
     beiläufig ein mögliches Statement vorbereiten. Doch als er sich einen Schreibblock und einen Bleistift zurechtlegte und den
     von Patrik improvisierten Titel oben auf das Blatt schrieb, wurde er von einem totalen Gedankenstillstand ergriffen, sodass
     er nur noch wie durch einen milchigen Nebel

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