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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Beatmungsgerät, fixiert durch den Kopfverband, in
     seinen geöffneten Mund und in die Luftröhre führte. Kaum merklich hob und senkte sich seine Brust in dem langsamen Rhythmus,
     den die Maschine diktierte: Ein schwarzer Faltenbalg in einem Gehäuse aus Plexiglas, der sich zusammenpresste und wieder ausdehnte,
     blies und saugte mit der unermüdlichen und gleichmäßigen Energie eines mechanischen Pumpwerkes, während an der Wand, über
     dem Kopf des Jungen, die grüne Zackenlinie seines Herzschlages über den Monitor lief. Er lebte, wurde gelebt. Dieser schmächtige,
     mit Kathetern und Kanülen gespickte Körper eines siebenjährigen Kindes, dessen mageres, schweißiges Gesicht von zwei Augen
     beherrscht wurde, deren verschwimmender Blick nirgendwo einen Halt fand, war zu einem Anhängsel der Apparatur geworden, die
     ihn gefangen hielt.
    Der Arzt leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in beide Augen.
    »Die Pupillen reagieren noch auf Lichtreize«, sagte er, »aber sehen tut er nichts.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Die Worte, die Erinnerungen sind ausgelöscht, weil die entsprechenden Hirnregionen abgestorben sind.«
    |52| »Aber wenn die Augen auf Lichtreize reagieren, dann nehmen sie doch etwas wahr.«
    »Vielleicht Nebel, Lichter, Bewegungen, aber alles ohne Sinn.«
    »Und daraus kann nie wieder eine Welt werden?«
    »Manchmal gibt es teilweise Restitutionen. Ich fürchte aber, er wird zum Apalliker werden.«
    »Zum was?«
    »Zu einem Menschen ohne Großhirn. Das ist ein rein vegetatives Leben, ohne Bewusstsein, ohne Willen, ohne Bedeutungen. Die
     sogenannte unsterbliche Seele gibt es dann auch nicht mehr.«
    Darauf wusste er nichts zu antworten. Er nickte.
     
    Zu Hause versuchte er erneut, Karbe anzurufen, legte aber sofort wieder auf, als das Rufzeichen kam. Er hatte plötzlich Angst
     bekommen, Karbes erstickte Stimme dicht an seinem Ohr zu hören. Und in den Sekunden, in denen der andere vermutlich aufstand,
     um zum Telefon zu gehen, hatte ihm Panik die Kehle zugeschnürt. Er hatte befürchtet, unter einem unausweichlichen Zwang sagen
     zu müssen: »Warum hast du es getan?«
    Er musste tief durchatmen, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Wie war das möglich, diese plötzliche Überrumpelung? War
     er, ohne es sich einzugestehen, davon ausgegangen, dass Karbe ein Mörder war? Das war ein Gedanke, den er sich verbieten musste.
     Karbe war ein Mensch in Seelennot, der ihm anvertraut war und um den er sich kümmern musste. Um sich zu korrigieren, rief
     er sofort wieder |53| an und wartete. Zweimal kam das Rufzeichen, dann ein scharfer Piepton, und eine weibliche Tonbandstimme sagte in regelmäßiger
     Wiederholung: »Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar. Bitte rufen Sie später wieder an.« Einen Augenblick hörte
     er der Stimme zu, bevor er ausschaltete. Obwohl die Stimme nicht verriet, was sich hinter ihrer Ansage verbarg, fühlte er
     sich beruhigt. Karbe hatte vermutlich anonyme Anrufe bekommen und war von fremden Leuten beschimpft oder bedroht worden. Er
     selbst wäre ja beinahe eine dieser Verfolgerstimmen geworden. Auch die Frage, die sich ihm plötzlich aufgedrängt hatte, unterstellte
     den Mord als Tatsache mit einer seltsamen zielstrebigen Energie, die ein Geständnis erzwingen wollte. Es war ein plötzlicher
     Wunsch nach Einfachheit und Klarheit gewesen, der eine quälende Ungewissheit beseitigen sollte. Das hatte er auch bei Dr.
     Kühne gespürt, der wie besessen gegen alle Zweifel mit immer neuen Konstruktionen die Möglichkeit des Mordes umkreist und
     festgehalten hatte. Es war wie ein Sog gewesen. Er hatte sich kaum dagegen wehren können. Erst Kühnes abschließende Äußerung
     »Man wird nie einen Zeugen haben« hatte ihm wieder Luft verschafft. Aber war das nicht eine fragwürdige, kompromissbereite
     Erleichterung?
    Wahrscheinlich fanden jetzt überall solche Gespräche statt, durch die sich die Gesellschaft trotz aller Zweifel neu festigte.
     Natürlich auf Kosten von Karbe, an dem ein Verdacht haftete, von dem er sich nicht befreien konnte. Es war durchaus verständlich,
     dass er sein Telefon abgeschaltet hatte, um Ruhe zu finden. |54| Es war eine Schutzmaßnahme, konnte aber auch das Anzeichen eines endgültigen Rückzugs sein. Musste er darauf reagieren? War
     das schon wieder eine neue Hypothese? Er hatte keine Erfahrungen, auf die er sich stützen konnte. Sein Vorgänger hätte möglicherweise
     gelassener reagiert. Aber ihm war bestimmt in

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