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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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bedrückend niedriger Zimmerdecke, der mit plumpen, schwer
     beweglichen Möbeln vollgestellt war, zwischen denen man sich hindurchwinden musste. Aufgefordert von Karbe, setzte er sich
     in einen Sessel, dessen Polster tief einsackte und ihn mit gekrümmtem Rücken gegen die Lehne sinken ließ. Karbe, der eine
     ungespülte Tasse vom Tisch genommen hatte, um damit nach nebenan in die Küche zu gehen, fragte, ob er einen Kaffee wolle.
    »Ach, machen Sie sich keine Mühe«, sagte er.
    »Ich habe welchen in der Thermoskanne.«
    »Gut, dann trinke ich eine Tasse.«
    Karbe nickte und verschwand in der Küche, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Wasser lief. Das war anscheinend wie bei
     ihm: Benutztes Geschirr stand in der Spüle und wurde bei Bedarf unter den Wasserstrahl gehalten und abgetrocknet. Sollte er
     hinübergehen und Karbe auf die gemeinsamen Gewohnheiten ansprechen? Oder war das zu aufdringlich für einen so verschlossenen
     Mann?
    Er schaute sich im Zimmer um. Nach draußen blicken konnte er von seinem Sitz aus nicht, da das Fenster bis zur halben Höhe
     mit einer weißen Spanngardine verschlossen war, die ihn an verschmutzten Verbandsstoff erinnerte. Angebrochene Tablettenschachteln |95| lagen auf der Fensterbank. Auf der Kommode neben der angelehnten Küchentür waren in schwarzen Wechselrahmen verschiedener
     Größe Familienfotos aufgestellt. Außer einem schwarz-weißen Hochzeitsfoto waren es anscheinend lauter Fotos von Kerstin Karbe
     und von dem Jungen in verschiedenen Altersphasen. Er stand auf, um sie sich näher anzusehen, da kam Karbe mit der Thermoskanne
     und einer gespülten Tasse ins Zimmer, und wie jemand, der sich ein wenig gereckt und entspannt hatte, ging er zu seinem Platz
     zurück. Er war sich nicht im Klaren darüber, ob Karbe gemerkt hatte, dass er die Fotos betrachten wollte, fand es aber besser,
     es beiläufig zuzugeben.
    »Fotos von Ihrer Frau und dem Jungen?«, fragte er, indem er in Richtung der Kommode wies.
    Karbe, der gerade die Tasse vor ihn hingestellt hatte und den Verschluss der Kanne aufschraubte, blickte sich um, als wüsste
     er nicht genau, wovon die Rede war, und müsste sich erst einmal orientieren.
    »Ja«, sagte er.
    Sich vorbeugend, goss er mit gestrecktem Arm aus der Kanne einen knappen, spärlich fließenden Rest Kaffee in die Tasse, die
     nicht mehr ganz voll wurde.
    »Danke, danke«, sagte er. »Jetzt haben Sie ja selbst nichts.«
    »Ich habe schon zu viel Kaffee getrunken. Möchten Sie Zucker oder Milch?«
    »Nein danke«, antwortete er, ungeduldig wegen der Floskeln, die sie austauschten, ohne zu wissen, wie er das beenden sollte.
    Höflich nahm er einen Schluck von der lauwarmen, |96| braunschwarzen Brühe und stellte die Tasse etwas weiter von sich weg. Dabei fing er Karbes Blick auf, der ihn genau zu beobachten
     schien. Fürchtete er das Gespräch? Hatte er Grund dazu? Ich muss in jeder Hinsicht vorsichtig sein, dachte er, denn es schien
     ihm fast unvermeidlich, etwas falsch zu machen.
    »Wie geht es Ihnen gesundheitlich?«, fragte er. »Können Sie schlafen?«
    »Wenig«, sagte Karbe. »Zwei, drei Stunden, dann bin ich wieder wach.«
    »Verstehe«, sagte er. »Es geht Ihnen sicher alles im Kopf herum?«
    Karbe blickte vor sich hin, ohne zu antworten. Schließlich sagte er: »Ich kann gar nicht denken.«
    »Haben Sie sich in der Schule beurlauben lassen?«
    »Ja.«
    »Für wie lange?«
    »Ich bin auf unbestimmte Zeit beurlaubt, wenn ich das richtig verstanden habe.«
    Damit hatte er nicht gerechnet. Was auch immer es bedeutete, es war ein Warnsignal. Karbes unbefristete Beurlaubung musste
     mit den noch nicht abgeschlossenen polizeilichen Ermittlungen zusammenhängen, einem nicht ausgeräumten oder einem neu aufgetauchten
     schwerwiegenden Verdacht. Hatte es etwa schon Proteste des Elternbeirats gegen Karbes Verwendung als Lehrer gegeben? Oder
     hatte die Schulverwaltung solchen Protesten zuvorkommen wollen? Er war jedenfalls ein Ausgestoßener. Wenige Tage hatten genügt,
     Gerüchte gegen ihn zu schüren, und er hatte mit seinem Rückzug, seinem Schweigen dem Gerede viel |97| Raum gelassen. War es möglich, dass sich jemand so verwandelte ohne Schuldgefühle? War es nur Trauer, Verzweiflung? Es war
     nicht möglich, länger in Karbes Gesicht zu schauen, weil sein Blick nicht standhielt, der glasige Blick eines übermüdeten,
     ausgebrannten Menschen, der in sich zusammengesunken in dem geblümten Polstersessel saß.
    »Wir müssen miteinander

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